Analphabetismus

Die Scham, nicht lesen und schreiben zu können

29:13 Minuten
Eine Hand schreibt Wörter in ein Schulheft.
860 Millionen Erwachsene weltweit können nicht richtig lesen und schreiben. © picture alliance/dpa/Kira Hofmann
Von Susanne Franzmeyer · 04.07.2022
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Über sechs Millionen Erwachsene in Deutschland können nicht richtig schreiben und lesen. Es gibt viele Initiativen, die den Betroffenen helfen möchten. Doch es ist schwer, sie zu erreichen. Denn die meisten verheimlichen ihr Problem.
8. September 2020: Im Biergarten der Ufa-Fabrik in Berlin Tempelhof haben sich schon einige Besucher eingefunden und setzen sich an die Tische. Im hinteren Teil sind Lautsprecher aufgestellt. Die Veranstalter testen das Mikrofon.
"Wir hoffen natürlich, dass viele Leute kommen. Wir sind, glaube ich, alle ein bisschen angespannt, meine Kolleginnen und ich, weil wir natürlich wollen, dass hier die Tische alle gefüllt werden."
Große Banner weisen darauf hin, worum es heute geht: "Es ist nie zu spät, lesen und schreiben zu lernen. Wir helfen", steht auf einem. Dann eine Telefonnummer: 0800 53 33 44 55. Die Telefonnummer vom Alfa-Telefon, einer ersten Anlaufstelle für Menschen mit Lese- und Schreibschwierigkeiten, die Hilfe suchen. Anlass: Der 8. September ist Weltalphabetisierungstag.
"Heute findet eine Quizveranstaltung statt, ein sogenanntes Pub-Quiz oder Biergartenquiz." Ein Quiz, bei dem jeder eingeladen ist mitzumachen. Und auch Sie, liebe Hörerschaft, dürfen ein bisschen mitraten. Nehmen Sie doch Zettel und Stift zur Hand. Es wird spannend.
"Viele Fragen haben was mit unserem Thema zu tun." Organisator der heutigen Aktion ist das Alfa-Mobil.

"Das ist schon peinlich"

"Also der offizielle Name ist sozusagen: Alfa-Mobil – aufsuchende Beratung der Bevölkerung. Das heißt: Da die Menschen nicht alleine von den Kursen wissen oder in die Kurse kommen, was auch ganz viel mit dem Thema Scham und Heimlichkeit zu tun hat, machen wir das Thema groß, indem wir in die Bevölkerung reingehen."
Dahinter steht der Bundesverband für Alphabetisierung und Grundbildung, ein gemeinnütziger Verein, gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung.
"Die Leute sollen sich in Teams zusammenfinden, und am Ende gibt es natürlich auch was zu gewinnen. Da gibt es dann tolle Preise."
Menschen sitzen an Biertischen beim Pub-Quiz
Beim Pub-Quiz können sich Menschen über die Möglichkeiten informieren, auch noch als Erwachsene Lesen und Schreiben zu lernen.© Alfa-Mobil
860 Millionen Erwachsene weltweit können nicht richtig lesen und schreiben. In Deutschland sind es etwas mehr als 6,2 Millionen. Eine erschreckend hohe Zahl. Das ergab eine groß angelegte Studie aus dem Jahr 2018. Der von der UNESCO 1965 ins Leben gerufene Weltalphabetisierungstag soll alljährlich auf das Problem aufmerksam machen.
"Und um uns zu unterstützen, haben wir jetzt auch vier Lernbotschafter und Lernbotschafterinnen aus Berlin dabei. Die werden auch für Fragen zur Verfügung stehen."
Die "Lernbotschafter" – Gerd, Ute, Harald und Tina – sind ehemalige Betroffene, die im späten Erwachsenenalter begonnen haben, noch einmal die Schulbank zu drücken und ihre Lese- und Schreibdefizite aufzubessern.
"Der erste Schritt dahin, das ist schon peinlich, unangenehm. Man hat ein besonderes Alter erreicht, wo man sagt: Nein, jetzt will ich nicht mehr. Aber der Druck von meiner Freundin, der war noch größer, die wollte mir nämlich die Freundschaft kündigen, wenn ich da nicht reingehe und lerne. Aber dann geht man da rein. Erst einmal die Scham und das alles zu überwinden. Wenn man das nicht kann, dann würden wir hier nicht sitzen."
Inzwischen haben alle vier schon Medienerfahrung gesammelt. Der offene Umgang mit ihrem Handicap und das ihnen entgegengebrachte Interesse tun ihnen gut.
Aber aufgepasst, jetzt kommt das Quiz. Sind Sie bereit?

"Dann geht es los mit der ersten Frage: Haben mehr Männer oder mehr Frauen Probleme mit dem Lesen und Schreiben in Deutschland."

Selbst der Gang zum Arzt wird zum Problem

"Man will das nicht mehr: Hilfe. Und so habe ich alles schleifen lassen, hab meine Miete nicht mehr eingezahlt, hätte beinahe meine Wohnung verloren."
Die meisten Betroffenen schleppen ihre Lese- und Schreibschwäche über Jahre als Geheimnis mit sich herum, entwickeln Vermeidungsstrategien, leiden unter permanenter Anspannung aufzufliegen. Bei vielen macht die Psyche irgendwann nicht mehr mit.
"Die Probleme fingen ja auch schon an, wenn wir zum Arzt gegangen sind. Da mussten wir unseren Namen, die Adresse aufschreiben. Anamnesebogen. Dann kam die Schwester rein: 'Na, haben Sie schon ausgefüllt?' – 'Nein.' – Zweites Mal kam sie rein. – 'Nein.' – Und dann habe ich es ihnen auf den Pult geschmissen und bin gegangen. Aber für meine Tochter war ich immer da. Das musste ich ja."

"Jetzt kommen wir zur zweiten Frage: Sind unter den funktionalen Analphabeten in Deutschland mehr Menschen mit Deutsch als Muttersprache oder mit einer anderen Muttersprache?"

Als besonders schwierig erweist es sich, mehr Betroffene in die Kurse zu locken. Den Lernbotschaftern kommt hier eine wichtige Vorbildfunktion zu.
"Ich arbeite im Grünflächenbereich, habe da so eine Maßnahme. Und da sind welche bei, die da nicht so locker sind. Einer kam aus Sachsen. Den werde ich jetzt in die Schule bringen. Mal sehen."
Sie klären auch auf und wirken an Aktionen mit, die auf die Alltagsprobleme von Menschen mit Lese- und Schreibschwäche aufmerksam machen.
"Weil wir ja gelernt haben, damit umzugehen und anderen zu vermitteln, wie es Analphabeten eigentlich geht."

Wenige trauen sich in die Schreib- und Lese-Kurse

Von den 6,2 Millionen Betroffenen in Deutschland kommt weniger als ein Prozent in die Kurse. Ute hat es erst mit 52 Jahren geschafft. 17 Jahre lang hatte sie in einer Großküche gearbeitet. Wegen ihrer Probleme mit dem Lesen und Schreiben wurde sie lange gemobbt. Schließlich kam die Kündigung.
"Ich konnte mich dann im Jobcenter offenbaren, dass ich nicht lesen und schreiben kann, und die hatte eine Adresse in der Schublade gehabt, von Lesen und Schreiben e.V. Und so bin ich damals bei Lesen und Schreiben e.V. hingekommen, hab zwei Jahre da gelernt, Lesen und Schreiben. Das hat mir irgendwie nicht gereicht. Ich wollte weiter, bin noch mal vier Jahre auf die Volkshochschule gegangen. Ich hatte schon Panik, eigentlich, da anzurufen, einen Termin zu machen. Aber da waren die Leute so nett. So ist man da reingeschliddert in die ganze Sache. Das war gut. Sonst wäre ich immer noch so verschlossen wie früher."
Erwachsene sitzen in einem Klassenzimmer. Eine Lehrerin zeigt ein Buch. An der Tafel sind Buchstaben zu lesen.
Die Scham ist groß: Nur wenige trauen sich in einen Lese- und Schreib-Kurs für Erwachsene.© picture alliance / dpa / Bernd Wüstneck

"Jetzt zu Frage drei. Und zwar: Haben die meisten funktionalen Analphabeten einen Schulabschluss? Ganz egal, was für einen: also Abitur, mittlere Reife, Hauptschulabschluss."

"Für die Leute, die vom Fach sind oder die es werden wollen: Man spricht nicht nur von funktionalen Analphabeten, sondern seit der neuesten Studie auch von gering Literalisierten."

Analphabet – eine stigmatisierende Bezeichnung

"Mein Name ist Anke Grotlüschen. Ich bin Universitätsprofessorin für Lebenslanges Lernen an der Universität Hamburg. Ich sag gerne etwas zum Begriff ‚gering literalisierte Erwachsene‘. Das fliegt uns ja so schön um die Ohren."
Anke Grotlüschen hat die zwei wichtigsten Studien zu Analphabetismus in Deutschland – die so genannten LEO-Studien – grundlegend mit initiiert und gestaltet. "LEO" steht dabei für "Level-One" – die niedrigste Bildungsstufe.
"Wir haben die letzte Studie 2012 unter dem Stichwort ‚Funktionaler Analphabetismus‘ publiziert. Es ist aber auch sehr deutlich geworden, dass das funktionale schnell verschwindet und dann nur noch Analphabetismus übrig bleibt. Und dann sagt man: Der ist Analphabet. Und das merken Sie selbst, das ist ganz schnell eine sehr unangenehme Bezeichnung."

"Frage Nummer vier: Arbeitet die Mehrheit der funktionalen Analphabeten? Ja oder nein?"

"Es trifft auch nicht zu, weil Analphabetismus bedeuten würde, dass man tatsächlich überhaupt nicht lesen und schreiben kann. Das ist nicht der Fall", betont Anke Grotlüschen. "Unsere Population liest und schreibt auf einem sehr geringen Niveau. Darum sprechen wir jetzt von geringer Literalität. Dabei haben wir aber den Fehler gemacht, dass wir dachten, Literalität wäre bekannt. Das ist ein sehr akademisches Wort. Man kann das synonym übersetzen mit Lese- und Schreibkompetenz."

"Frage Nummer fünf. Wir werden finanziert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Und dazu ist jetzt die Frage: Wer leitet das Ministerium für Bildung und Forschung?"

Die beiden LEO-Studien liefern bis heute die zentralen Orientierungswerte für die Fachwelt.
"Wir haben dabei zwischen 7000 und 8500 Personen befragen und auch testen lassen. Und danach haben wir geschätzt, wie hoch der Anteil in der Bevölkerung ist. 2010/11 waren das 7,5 Millionen aus der erwachsenen deutschen Bevölkerung. Erwachsen heißt 18 bis 64. Und acht Jahre später war das um mehr als eine Million geringer, nämlich 6,2 Millionen", so Grotlüschen.
Dass sich aber innerhalb einer so kurzen Zeitspanne die Zahl derartig verringert hat, ist kaum denkbar. Die Fachwelt sieht eine Erklärung darin, dass ein großer Teil der über 65-Jährigen hier einfach nicht mehr erfasst wurde. "Weil uns die quasi vom Alter aus der Zielgruppe rauswachsen, aus der Befragtengruppe rauswachsen. Wir hören ja bei 64 auf."

Es gibt viele Ursachen für eine geringe Literalität

"Jetzt geht es um einen ganz bestimmten Zeitraum, die sogenannte Alpha-Dekade. Ein Zeitraum, in dem Bund, Länder und Partner sich das Ziel gesetzt haben, das Grundbildungsniveau zu erhöhen. Und Frage Nummer 6 ist: Über welchen Zeitraum geht die Alpha-Dekade? Also von welchem Jahr bis zu welchem Jahr?"
Gründe für geringe Literalität im Erwachsenenalter gibt es viele. Nur sechs Prozent der funktionalen Analphabeten wurden laut der LEO-Studie im Kindesalter als Legastheniker diagnostiziert – eine Diagnose, die gesellschaftlich übrigens deutlich weniger stigmatisiert ist. Oft liegen andere Ursachen zugrunde: ein Mangel an individueller Förderung in der Schule, zu große Klassen, häufige Schulwechsel. Versagensängste und die Entwicklung von Vermeidungsstrategien kommen erschwerend hinzu.
In den höheren Klassen wird das Lesen und Schreiben dann gar nicht mehr unterrichtet. Wer es so weit geschafft hat, dem gelingt mitunter trotz seiner Defizite ein Schulabschluss. Häufig liegen die Gründe auch in familiären Problemen, so wie bei Lernbotschafter Harald.
"Meine Eltern haben sich kaum um mich gekümmert. Sie sind mehr Alkoholiker gewesen als alles andere. Meine Oma hat mir dann vorgelesen, und ich bin dann zur Schule gegangen. In der 8., 9. Klasse, so weit bin ich gekommen mit meinem Analphabetentum. Und da ist mir erst aufgefallen, dass meine anderen Noten ja gut waren: Erdkunde, Physik und so was. Es ist nicht so, dass wir nichts können. Und dann kommst du aus der Schule raus, hast ein Abgangszeugnis und sollst zur Berufsschule. Und da bin ich gescheitert. Die Anforderungen waren so hoch: Da bin ich gescheitert."

Viele Betroffene leben in stabilen Strukturen

Wer mit starken Problemen beim Lesen und Schreiben die Schule verlässt, dessen Defizite verstärken sich häufig, und nicht selten reichen die Kenntnisse schließlich nicht mehr für die Alltagsbewältigung aus. Die Betroffenen kommen dann ohne Hilfe im Schriftsprachlichen nicht mehr zurecht. Immerhin haben die Studien aber ergeben, dass die meisten Betroffenen in stabilen Strukturen leben.
"Aus den beiden Studien im Zusammenhang haben wir erst einmal einen überraschend positiven Befund, nämlich, dass gering literalisierte Erwachsene gar nicht so wahnsinnig ausgeschlossen sind vom Arbeitsmarkt und auch im familiären Zusammenhang genauso leben wie andere auch."
Hand schreibt Großbuchstaben
Lesen und Schreiben lernt doch jeder in der Schule: falsch!© picture alliance / PIXSELL / Tomislav Miletic
Anke Grotlüschen sieht eine Gefahr an anderer Stelle: "Das Alarmierendste ist tatsächlich, dass der Bereich des Hinterfragens und des selbst Beurteilens, dass der deutlich begrenzter möglich ist. Und das führt natürlich dazu, dass man sich an andere anhängt. Und damit kann man Verschwörungstheorien, Demokratiebeschädigungen, Spaltung in der Gesellschaft massiv unterstützen. Das ist tatsächlich kritisch."

"Frage Nummer sieben: Welcher amtierende Ministerpräsident hat eine Lese- und Schreibschwäche? Es sind Menschen aus allen möglichen Bereichen betroffen – unter anderem auch hochrangige Politiker!"

Insgesamt hat sich seit der Veröffentlichung der beiden LEO-Studien zur geringen Literalität in Deutschland schon viel getan.
"Es haben sich wahnsinnig viele gesellschaftliche Gruppierungen, zivilgesellschaftliche Akteure damit befasst. Und das Angebot ist inzwischen unglaublich breit geworden und auch schön ausdifferenziert."
Dazu zählt auch das Alfa-Mobil. Das ist, wie der Name schon sagt, mobil – und kann ortsunabhängige Aktionen durchführen. Mit dem Kleinbus geht es auch in die entlegensten Gegenden, wo es oftmals an Alphabetisierungs- und Aufklärungsangeboten mangelt.
"Wir fahren morgen vormittags los nach Zittau. Dort stehen wir dann am Mittwoch von neun bis zwölf auf dem Marktplatz. Da ist auch so ein großer Aktionstag zum Thema Analphabetismus."

Eigentlich sind Lernbotschafter dabei

Eigentlich fährt zu den Aktionen auch immer ein Lernbotschafter aus Berlin mit. Zu Coronazeiten ist das allerdings aufgrund der einzuhaltenden Bestimmungen nicht möglich.
"Und danach Spremberg. Da ist am nächsten Tag auch eine Aktion. Darauf den Tag dann in Cottbus."
Auto und Schild Alfa-Mobil: ein mobiler Infostand für Alphabetisierungskampagne
Das Alfa-Mobil ist überall in Deutschland unterwegs, um über Alphabetisierungsmöglichkeiten zu informieren.© Alfa Mobil
Vor jeder Aktion werden auf das Neue Gummibärchentüten, Jutebeutel, Brillenputztücher, Kugelschreiber und natürlich auch Info-Broschüren eingepackt.
"Auf allen unseren Give-aways steht die Nummer vom Alfa-Telefon. Das ist eigentlich das Wichtigste. Und auf der Broschüre noch ein paar Hintergrundinformationen dazu."

Wer nicht lesen kann, ist schwer zu erreichen

Die meisten dieser Hintergrundinformationen sind nach wie vor schriftlich. Denn als Zielgruppe sollen vor allem auch Angehörige und Mitwisser angesprochen werden. Sie sind neben den Lernbotschaftern die wichtigsten Multiplikatoren. Aber auch neue Ansätze, insbesondere eine engere Zusammenarbeit mit Trägern der sozialen Arbeit, erweisen sich zunehmend als hilfreich. Man sucht über speziell geschulte Ansprechpartner den direkten Kontakt zu den Betroffenen.
"Ein sehr großes bekanntes Gewerkschaftsprojekt, das heißt Mento. Die bilden Mentoren und Mentorinnen in den Betrieben aus auf Augenhöhe. Das sind die Leute, die selbst auch an der Werkbank stehen oder am Fließband. Dann kann ich zu diesem Mentor gehen und kann mich dem anvertrauen. Und umgekehrt kann der Mentor auch hingehen und sagen: Du, ich habe da gemerkt, das funktioniert nicht so gut, wenn du das mit dem Lesen und Schreiben machen sollst. Wollen wir da mal drüber sprechen? Das finde ich ein ganz spannendes Projekt."

"Frage Nummer acht: Welches war die erste Großveranstaltung in den neuen Bundesländern, die coronabedingt abgesagt wurde? Kleiner Tipp: Es hat mit unserem Thema zu tun."

"Ein anderes Projekt versucht zum Beispiel, Frauen in Moscheen anzusprechen. Und die Frauen sagen, ja, hier werde ich das erste Mal verstanden. Hier kommt jemand und spricht mich in meiner Sprache an. Ich verstehe, was man im Kurs von mir will. Und es gibt dann diese wunderschönen und relativ neuen Projekte, die auch von den Trägern der sozialen Arbeit mit unterstützt werden. Eins davon geht in Hamburg direkt auf den Kiez. Die heißen ‚Neustart St. Pauli‘. Die sagen uns auch direkt: Der Mann am Kiosk, der den Schnaps verkauft, der weiß ganz genau Bescheid, wer seine Pappenheimer sind, die kennen sich ja."
"Wir haben hier vier Lernbotschafter vor Ort, die im Erwachsenenalter lesen und schreiben gelernt haben – beziehungsweise es immer noch lernen. Und jetzt möchten wir Sie bitten, sich mal vorzustellen, welche Fähigkeiten diese Menschen mit Lese- und Schreibschwierigkeiten besonders entwickelt haben."
"Die Bildungsträger sitzen zwar manchmal direkt daneben. Das ist gar nicht weit bis zur Volkshochschule. Aber die leben in einer ganz anderen Welt. Über die soziale Arbeit werden jetzt Verbindungen hergestellt, dass quasi die Volkshochschule drei Straßen weiter, im Schanzenviertel, und die Leute von den Kiosken auf dem Kiez, dass die miteinander in Kontakt kommen. Und das finde ich wirklich, wirklich hilfreich."

Kommunikationswege jenseits der Schriftsprache

Freitag, 2. Oktober, kurz nach neun Uhr: Das Alfa-Mobil erreicht die dritte Station seiner Aktionstour. Cottbus. Tische und Banner werden aufgestellt, ein Pavillon errichtet, Info-Broschüren und Materialien zurechtgelegt.
Wichtige Multiplikatoren sind auch die Jobcenter. Doch von dort könnte noch mehr Unterstützung kommen, sagen die Leute vom Fach. Eine Postkarte mit einer Karikatur darauf – eines der Alfa-Mobil-Give-aways – bringt es auf den Punkt.
"Diese Karte, wo halt jemand bei einer Sachbearbeiterin an einem Schreibtisch sitzt. Und die Person, die als Besucher da ist, sagt: Ich bin Analphabet. – Und die Sachbearbeiterin sagt: Das bräuchte ich schriftlich. – Ganz viele Mitarbeiter aus den Jobcentern sagen uns dazu immer: Das trifft es genau. Wir wollen das aber eigentlich anders haben."
Eine Frau auf dem Weg zur Agentur für Arbeit
Die Jobcenter könnten besser über Angebote für Menschen mit Lese- und Schreibschwächen informieren.© picture alliance / Fotostand / Gelhot
Die meisten Kommunikationswege setzen nach wie vor zumindest ein Minimum an Schriftsprachenkenntnis voraus. Anders die audiovisuellen Werbekampagnen in Funk und Fernsehen. Sie kamen erstmals vor über 20 Jahren zum Einsatz. Seitdem sind verschiedene Spots entstanden. Die letzte Kampagne startete 2020. Nach den jüngsten Ausstrahlungen stiegen die Anrufzahlen beim Alfa-Telefon auf das Dreifache.
Es gab auch Versuche mit QR-Codes, um Schriftsprachliches zu umgehen. Beim Scannen des QR-Codes über das Smartphone wird der Nutzer direkt zu einer audiovisuellen Botschaft weitergeleitet. Klingt praktisch. "Wird aber in der Realität dann oft nicht so angenommen." Viele schreckt der hohe Datenverbrauch ab. "Oder, wenn dann doch noch einmal was aufploppt mit Cookies oder Datenschutzbestimmungen, das steht dann wieder in Schriftgröße 3,5. Und dann ist es schon vorbei."

Grundbildung vermitteln

"Tatsächlich sind es die Alphabetisierungs- und Grundbildungskurse im engsten Sinne, die so wenig Teilnehmende haben", bestätigt Anke Grotlüschen. "Meines Erachtens liegt der Fehler darin, immer wieder auf das Erlernen von Rechtschreibung zu setzen. Ich finde, Grundbildung ist mehr, Grundbildung ist eben auch finanzielle, politische, digitale, Gesundheitsgrundbildung. Dazu brauche ich aber Kursleitungspersonal oder Fachpersonal, das solche Themen aufgreift, sodass die auch bei den potenziellen Teilnehmenden ankommen."
Harald, Ute, Tina und Gerd aus Berlin haben den Schritt nach vorn geschafft.
"Letztens bin ich auch wieder beim Arzt gewesen. Und habe dann wieder einen Anamnesebogen ausgefüllt. Und das mache ich jetzt einfach mit links, ohne Angst, ohne mehr angespannt zu sein. Und das ist ein ganz tolles Gefühl!"

"Ich glaube, wir können zur zehnten Frage kommen, zur letzten Frage in dieser Runde. Können tendenziell jüngere Menschen oder ältere besser lesen und schreiben? Mit jüngere ist gemeint: Menschen zwischen 18 und 35. Mit ältere ist gemeint: Personen zwischen 46 und 65 Jahren"

In den Lernkursen sind alle Altersstufen vertreten. "Von 18 oder 25 bis 52 oder 53. Und ihre Eltern sind gut betucht, haben auch Jobs und verstehen das auch nicht, dass ihr Kind nicht lernen kann."
Immer wieder versucht Harald, auch die jüngeren Kursteilnehmer zu überreden, ebenfalls als Lernbotschafter aufzutreten, bislang erfolglos.
"Doch, ich habe Interesse, aber ich habe keine Zeit, sagen sie dann. Die wollen noch nicht so in der Öffentlichkeit stehen oder wollen nicht von anderen Leuten erkannt werden, weil das Schamgefühl bei denen noch höher ist."
"Gut, dann fangen wir an aufzulösen." So, liebe Hörerschaft, ich hoffe, Sie haben fleißig mitgerätselt. Schauen wir doch mal, ob Sie mit Ihren Antworten richtiglagen.

"Die erste Frage war: Haben mehr Männer oder mehr Frauen Probleme mit dem Lesen und Schreiben in Deutschland? Antwort: Es sind die Männer. Und zwar zu 58 Prozent. Warum? Haben die Lernbotschafter eine Idee? Unser Lernbotschafter Gerhard sagt, vielleicht sind die Männer zu faul!"

"Das ist aber gemein!"
"Na, ich war früher so!"

Mehr Männer haben Probleme mit dem Lesen

Daran liegt es natürlich nicht. Die Experten interpretieren das als geschlechterstereotypen Effekt, nach dem Lesen unter Jungs als etwas "für Mädchen" gelte. Die "Stiftung Lesen" hat daher ein Augenmerk auf vorlesende Väter gerichtet, um an diesem Rollenbild etwas zu ändern.

"Dann kommen wir zur Auflösung von der zweiten Frage: Sind unter den Funktionalen Analphabeten in Deutschland mehr Menschen mit deutscher Muttersprache oder mit einer anderen Muttersprache? Die Antwort ist: Die meisten haben Deutsch als Muttersprache, nämlich 52,6 Prozent."

"Der Bundesverband für Alphabetisierung und Grundbildung, die neue Werbekampagne, die gehen noch davon aus, dass man sich auf die 50 Prozent stürzen muss, die weiß, deutsch, in Deutschland geboren und nur mit der deutschen Sprache aufgewachsen sind – ich übertreibe ein bisschen –, während die andere Gruppe derer, die mehrsprachig groß geworden ist, zu wenig im Vordergrund steht", sagt dazu Anke Grotlüschen. "Ich glaube, das müssen wir in den nächsten fünf Jahren schon noch hinkriegen."

"Dann kommen wir zur dritten Frage: Haben die meisten Menschen mit Lese- und Schreibschwierigkeiten in Deutschland einen Schulabschluss? – Ja. Nämlich zu 76 Prozent."

18,5 Prozent der Betroffenen erlangten laut der LEO-Studie einen mittleren Schulabschluss und sogar 16,9 Prozent einen höheren, wie zum Beispiel Fachabitur, Meisterbrief oder einen aus dem Ausland mitgebrachten höheren Abschluss.

Kaum Aufstiegschancen

"Die vierte Frage: Arbeitet die Mehrheit der funktionalen Analphabeten? Ja, tut sie – und zwar zu 63 Prozent."

"Wir haben in den letzten zehn Jahren wirklich eine deutliche positive Arbeitsmarktentwicklung gehabt. Das wird jetzt mit Corona anders, aber trotzdem. Und ja, wir sehen, davon kommt ein bisschen auch was bei den gering Literalisierten an. Aber das ist bloß die Hälfte. Und das sind Tätigkeiten, bei denen man nix verdient, und bei denen man immer der Subvertragsnehmer und der Unterste auf der Leiter ist."
"Ich hab in einer chemischen Reinigung gearbeitet in Berlin, 24 Jahre. Und da braucht man nicht lesen und nicht schreiben. Da braucht man eigentlich nur arbeiten. Das hat ja funktioniert."
"Haben deine Kollegen das irgendwie gemerkt?"
"Ich hab gesagt, dass ich nicht so gut lesen und schreiben kann. Und mein Chef, der ist Grieche gewesen, und der konnte auch nicht so gut lesen und schreiben – auf Deutsch auf jeden Fall. Und wir haben uns Bombe verstanden."

Besonders durch Corona betroffen

Was aber bedeutet die Art der Beschäftigung von gering literalisierten Erwachsenen zu Coronazeiten? Die LEO-Studien zeigen, dass Betroffene überproportional in gerade den Bereichen beschäftigt sind, in denen Homeoffice nicht denkbar und das Infektionsrisiko besonders hoch ist – in der Nahrungsmittelzubereitung, der Logistik, der Reinigung.
"Wir wissen auch, dass genau diese Berufe die Tätigkeiten sind, die am schnellsten einbrechen. Das sind natürlich die Leute in der Spülküche, die jetzt plötzlich dastehen und sagen: Ja, was ist denn jetzt mit mir?"

"Frage Nummer fünf war, wer das Bundesministerium für Bildung und Forschung leitet. Die Antwort: Das ist Anja Karliczek. Ich hoffe, das wussten viele auch ohne googlen." Und? Haben Sie gegoogelt?

Frage Nummer sechs: Über welchen Zeitraum geht die aktuelle Alpha-Dekade? Die geht von 2016 bis 2026. In der Alpha-Dekade geht es eben darum, viel Öffentlichkeitsarbeit für das Thema zu leisten, Forschung in dem Bereich zu unterstützen, Angebote für Menschen mit Lese- und Schreibschwierigkeiten zu schaffen, Strukturen eben zu schaffen." 2021 ist also "Halbzeit".

"Frage Nummer sieben: Welche amtierende Ministerpräsident hat eine Lese- und Schreibschwäche? Das ist Bodo Ramelow – der Ministerpräsident aus Thüringen, von den Linken. Vor einigen Jahren ist er damit auch an die Öffentlichkeit gegangen: Es hat ihn nicht davon abgehalten zu studieren!"

Bodo Ramelow (Die Linke), Ministerpräsident von Thüringen auf einer Pressekonferenz.
Karriere trotz Legasthenie: Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow hatte als Kind mit einer Lese- und Rechtschreibschwäche zu kämpfen. © dpa-Zentralbild

"Dann Frage Nummer acht: Welches war die erste Großveranstaltung, die in den neuen Bundesländern coronabedingt abgesagt wurde? Leider eine unserer Lieblingsveranstaltungen, nämlich die Leipziger Buchmesse."

Buchmesse? Sie haben richtig gehört. "Da haben wir öffentlich vorgelesen! Das war das erste Mal, dass ich auf einer Bühne stand, und man hat uns zugehört!"
Seit 2008 wird nämlich auch auf der Buchmesse wiederholt mit Ständen unterschiedlicher Verbände auf das Problem der geringen Literalität aufmerksam gemacht.

Mit gutem Gedächtnis Defizite ausgleichen

"Die neunte Frage ging auf das Empathievermögen unserer Teilnehmer – und zwar sollten sich drei Fähigkeiten vorgestellt werden, die Menschen Lese- und Schreibschwierigkeiten besonders entwickeln konnten."

Betroffene wissen ihre schriftsprachlichen Defizite meist mit anderen Fähigkeiten zu kompensieren. Schon in der Schule hätten viele zum Beispiel ohne Stärken im Mündlichen wohl ihre schriftlichen Ausfälle kaum ausgleichen und damit einen Abschluss schaffen können.

"Kreativität, Empathie, Organisationstalent, Kurzzeitgedächtnis, visuelles Gedächtnis. Wenn mir jemand den Weg erklärt, muss ich mir das gut merken können. Ich kann auf meinem Weg nicht auf die Straßenschilder schauen. Ich muss mir das alles merken."

"Frage Nummer zehn. Das war: Können tendenziell jüngere oder ältere Menschen besser lesen und schreiben? Tendenziell jüngere Menschen. So zwischen 18 und 35. Das Bildungssystem ist doch tendenziell besser geworden."

Und das ist ein Hoffnungsschimmer. Allerdings befinden wir uns aktuell in einer Krisensituation, die wieder gerade die bildungsfernen Haushalte benachteiligt. Die Anrufzahlen beim Alfa-Telefon sind während des Lockdowns zurückgegangen. Zwar finden viele Grundbildungsangebote weiterhin in digitalisierter Form oder mit Telefonbetreuung statt. Aber wer nicht über die technischen Mittel verfügt, bleibt außen vor.
Gerade in den niederschwelligen Grundbildungsangeboten, wo die Honorarkräfte am wenigsten verdienen, fällt die Umstellung auf digitalen Unterricht zudem schwer. 30 bis 40 bayerische Volkshochschulen haben gravierende existenzielle Schwierigkeiten gemeldet. Eine Insolvenzwelle droht. Die Angebotsstruktur für Grundbildungsangebote würde damit an Stabilität verlieren. Welche messbaren Rückschläge und neuen Bildungsschneisen die Corona-Pandemie kurz- oder auch langfristig hervorbringen mag, bleibt aber wohl zukünftigen Studien vorbehalten.
"Wir freuen uns natürlich, dass alle teilgenommen haben. Alle sind Sieger! Also deswegen schon mal einen großen Applaus an alle Teams!"
Aus dem Biergarten geht es zurück in die eigenen vier Wände, den eigenen Mikrokosmos. Ob es unter den Besuchern neben den Lernbotschaftern auch weitere Menschen mit geringer Literalität gab, ist nicht genau auszumachen. Wenn ja, blieben diese heute lieber im Verborgenen.
"Bevor wir ein Interview machen, müssen wir noch eine Frage beantwortet haben. Die Hauptstadt von der Schweiz möchte ich gerne von dir wissen. Und wenn du die nicht weißt, machen wir kein Interview!"

Regie: Cordula Dickmeiß
Technik: Ralf Perz
Redaktion: Carsten Burtke
Sprecherin: Susanne Franzmeyer

Der Beitrag ist eine Wiederholung und wurde erstmals am 22.03.2021 gesendet.
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