Lesen lernen lohnt sich auch später im Leben

Millionen Menschen in Deutschland können nicht oder kaum lesen und schreiben. Das bringt Nachteile im Job und im Alltag. Oft schämen sich die Betroffenen, denn spät lesen lernen möchten wenige. Dabei zeigt sich: Der Prozess ist zäh - aber lohnend.
Mit 65 Jahren setzt sich Rentner Emile Meoux in die Grundschulklasse seines Dorfes und will lesen lernen. Aus der bizarren Situation und den Konflikten zwischen dem starrköpfigen Analphabeten und den quirligen Kindern macht der französische Film „Es sind die kleinen Dinge“ eine charmante Komödie.
In der Realität ist es deutlich schwieriger, als Erwachsener noch lesen und schreiben zu lernen. Es dauert mehrere Jahre und fordert viel Disziplin und Ausdauer. Deswegen wählen nur wenige diesen Weg. Schätzungen zufolge ist es nur ein Prozent der Betroffenen.
Neue Zahlen belegen, dass in Deutschland die Quote der Menschen, die nicht oder nur kaum lesen können, weitgehend stagniert. Woran liegt das und was kann dagegen getan werden? Ein Überblick.
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Wie viele Erwachsene in Deutschland können nicht lesen und schreiben?
Mietverträge oder Behördenschreiben – wer so etwas nicht lesen kann, hat im Alltag ein Problem. Zwei Studien liefern Daten, wie viele Menschen davon in Deutschland betroffen sind. Weil sie die Maßstäbe, ab welchem Niveau jemand als gering literarisiert gilt, leicht unterschiedlich setzen, kommen sie zu unterschiedlichen Ergebnissen.
Von 6,2 Millionen Betroffenen geht die LEO 2018-Erhebung aus. Eine Sonderauswertung der von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in Auftrag gegebenen PIAAC-Studie von 2023 geht sogar von 10,6 Millionen Betroffenen in Deutschland aus. Das entspricht 20 Prozent der Bevölkerung im Alter von 16 bis 65 Jahren (2012: 18 Prozent). Wohlgemerkt sind darunter viele, die Wörter und einfachere Sätze lesen können und auch einen Schulabschluss geschafft haben, die sich komplexere Texte aber nicht erschließen können.
Im Vergleich der Zahlen von 2012 bis 2023 zeigen sich einige Trends: Männer sind inzwischen häufiger betroffen als Frauen. Rund 55 Prozent der Menschen sind älter als 45 Jahre. Signifikant gestiegen ist der Anteil von Zuwanderern in dieser Gruppe: Der Anteil im Ausland geborener Erwachsener mit ausländischen Eltern wuchs von 28 auf 46 Prozent zwischen 2012 und 2023. Am Test teilgenommen haben wohlgemerkt nur Menschen, die ausreichende Deutschkenntnisse haben. Das bedeutet aber nicht, dass es im Alltag auch ihre Erstsprache ist, betonen die Forschenden.
Wie kommen erwachsene Analphabeten durch den Alltag?
Nicht lesen zu können, ist extrem schambesetzt. Viele Betroffene verheimlichen es so gut es geht, indem sie Situationen meiden, in denen ihre Schwierigkeiten auffallen könnten. Natürlich schlägt sich das auch auf das Berufsleben nieder. Überdurchschnittlich häufig landen sie nur in einfachen, schlecht bezahlten Hilfsjobs in der Logistik, der Reinigungsbranche oder in Großküchen, wo Lesen als Kompetenz nur eine geringe Rolle spielt. Insgesamt sind aus dieser Gruppe nur 60 Prozent in Arbeit, in der Gesamtbevölkerung sind es knapp 80 Prozent.
Trotz dieser Nachteile berichten Betroffene, wie sie sich Jahre und Jahrzehnte erfolgreich durch schwierige Situationen „getrickst“ haben, gleichzeitig aber an Ängsten und geringem Selbstwertgefühl litten. So gut wie alle haben Menschen in ihrem persönlichen Umfeld, die um die Schwierigkeiten wissen und ihnen helfen – Partnerinnen oder Partner, Kinder oder Freunde.
Und woher kommt dann der Impuls als Erwachsener doch noch mal die Schulbank zu drücken? Ein Jobverlust kann die Ursache sein. Viel häufiger ist jedoch das persönliche Netzwerk entscheidend: Enkel, die von der Schule kommen und etwas vorgelesen haben möchten. Freunde, die motivieren. Deshalb nehmen Hilfsangebote für Menschen, die kaum lesen und schreiben können, gezielt auch sie in den Fokus. Betroffene selbst sind mit Info-Flyern oder textbasierter Werbung schließlich schwieriger zu erreichen.
Wie können Erwachsene lesen und schreiben lernen?
Wer es wagt, sich auch später im Leben noch im Lesen zu verbessern, der gewinnt, ist Sabina Grbo überzeugt. Die Kursleiterin arbeitet für den Verein Lesen und Schreiben e.V. in Berlin, der wie viele andere Einrichtungen Tages- und Abendkurse zum Lesenlernen anbietet. Grbo erlebt ihre Teilnehmerinnen und Teilnehmer selbstbewusster und sortierter, wenn sie mit ihrer Lesekompetenz vorankommen. Nebenbei üben sie auch andere hilfreiche Dinge wie Konzentration oder Arbeitseinteilung und erleben, dass sie mit ihren Unzulänglichkeiten nicht alleine sind. Das schweißt zusammen.
Neue Worte zu lernen, ist ein wichtiger Teil von Alphabetisierungskursen. Menschen, die nicht gut lesen können, haben einen geringeren Wortschatz. Das behindert wiederum das Lesenlernen, sagt Cordula Löffler, Professorin an der Pädagogischen Hochschule Weingarten, „weil ich dann beim Lesen immer über Wörter stolpere, die ich nicht einordnen kann“. Ebenfalls von Bedeutung ist die sogenannte phonologische Bewusstheit – ein Gefühl für die Laute, den Rhythmus und Artikulation von Sprache. Kinder können das spielerisch über Kinderlieder oder -reime lernen, erklärt Löffler, bei Erwachsenen müsse man sich etwas anderes einfallen lassen: „Mit jungen Leuten können Sie rappen, sie können mit Songtexten arbeiten und dort Reime anschauen.“
Kurse und Angebote für Betroffene gibt es flächendeckend, von Volkshochschulen über Vereine bis hin zu privaten Initiativen. Unterstützung kommt auch von der Politik: Bund, Länder und gesellschaftliche Partnerorganisationen haben 2016 die Alphabetisierungsdekade ausgerufen. Der Anteil der Menschen mit Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben sollte gesenkt werden. Der Blick auf die Zahlen zeigt: Das hat nicht geklappt. Doch in diesem Fall scheint Stagnation nicht unbedingt ein Manko zu sein. Trotz hoher Zuwanderung und Krisensituationen wie der Coronapandemie habe es Deutschland geschafft, das Niveau zu halten, erklärt Erziehungsforscherin Anke Grotlüschen von der Universität Hamburg. „Das ist so weit erstmal gut.“
Katja Hanke, Jens Krepela