Gerald Lembke: "Verzockte Zukunft"

Neue Lehrer braucht das Land

08:35 Minuten
Der Professor und Autor Gerald Lembke
Kritik am veralteten Bildungssystem: Gerald Lembke findet, dass kaum kritisches Denken vermittelt wird. © Gerald Lembke
Gerald Lembke im Gespräch mit Christian Rabhansl · 06.07.2019
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Zwischen Jung und Alt klaffe eine Kommunikationslücke, meint der Wirtschaftsprofessor Gerald Lembke. Er fordert einen neuen Typus Lehrer. Dieser müsse Autorität moderner definieren und seinen Schülern auf Augenhöhe begegnen.
Christian Rabhansl: Die Jugend liebt heutzutage den Luxus, sie hat schlechte Manieren, sie verachtet die Autorität, sie hat keinen Respekt vor älteren Leuten und sie schwatzt, wo sie arbeiten soll. Die jungen Leute, die schwadronieren in der Gesellschaft, die legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer. Das war ein Zitat. Falls Sie da gerade genickt haben, sind Sie in guter Gesellschaft. Dieses Zitat wird nämlich Sokrates zugeschrieben – was zeigt, dass die Älteren schon immer über die Jüngeren geklagt haben. Entdeckt habe ich das Zitat im Vorwort des neuen Buches von Gerald Lembke "Verzockte Zukunft – Wie wir das Potenzial der jungen Generation verspielen". Gerald Lembke ist Wirtschaftspädagoge und BWL-Professor in Mannheim.
In diesem Vorwort schreiben Sie auch, früher hätten Sie solche Klagen ebenfalls für das Gejammer alter Leute gehalten. Heute aber, nach zwölf Jahren als Professor und in zwölf Jahren Arbeit mit Studierenden, da haben Sie selbst dieses Buch geschrieben. Was ist denn in diesen Zeit passiert?
Lembke: In den zwölf Jahren haben wir ganz deutlich einen Wertewandel wahrzunehmen, gerade jetzt im Bildungsbereich und vielleicht auch im Besonderen an den Hochschulen. Als ich 2007 an der Hochschule in Mannheim begann, da funktionierte das Lehren nach tradierten Mustern, nach alter Pädagogik, etablierter Didaktik.
In den letzten fünf bis sieben Jahren erleben wir – begonnen mit dieser sogenannten Generation Y –, dass wir auch einen Wertewandel im Verständnis von Autoritäten haben. Ein neues Verständnis, wie Lernen aus Sicht der jungen Leute funktionieren sollte. Aber auch einen Wertewandel in den Einstellungen der jungen Menschen. Und das war im Grunde für mich die Motivation, mich sehr tiefgehend mit diesen jungen Leuten zu beschäftigen – neben meinem Job als Professor.

Nicht mehr in alten Routinen denken

Rabhansl: In der Tat. Das ist erst mal ein sehr persönlicher Eindruck aus Ihrer Arbeit mit diesen jungen Menschen. Wenn ich das so sagen darf, ein Bauchgefühl. Wie sind Sie vorgegangen, um das Bauchgefühl zu überprüfen?
Lembke: Ich habe sehr viele Interviews geführt, insgesamt über 120. Ich habe sowohl mit den jungen Leuten gesprochen, sowohl Schülern, als auch Studierenden, als auch mit deren Eltern, als auch mit Lehrern und Professorenkollegen. Die habe ich ausgewertet, und da haben sich bestimmte Muster herausgegeben, die mich zu meiner Interpretation führten.
Rabhansl: Was sind das für Muster?
Lembke: Es sind Muster, dass tatsächlich die älteren Menschen das neue Wertverständnis der Jungen nicht verstehen. Es gibt überhaupt keinen rationalen und auch schon gar keinen emotionalen Zugang in die Lebenswelten der jungen Menschen. Das ist halt so, wie das bei älteren Generationen immer so ist: man denkt in den alten Routinen, in den Erfolgsroutinen insbesondere. Und man denkt, all das, womit ich meinen Erfolg als Eltern, als älterer Lehrer oder Professor aufgebaut habe, muss ich eins zu eins auf die Studierenden übertragen – weil, was mich erfolgreich macht, macht auch sie erfolgreich. Und das ist grundsätzlich falsch.

Die Tücken der Wohlstandsgesellschaft

Rabhansl: Das klingt erst mal so, als gäbe es ein Generationenmissverständnis. Aber Sie beschreiben ein sehr klares Problem. Der Titel lautet: "Wie wir das Potenzial der jungen Generationen verspielen". Sie schreiben in Ihrem Buch, wir würden heute in unseren Kindern die Folgen von fast 40 Jahren neoliberaler Ideologie repräsentiert sehen. Was bedeutet das?
Lembke: Richtig. Wir haben in den 80er-Jahren begonnen, mit Helmut Kohl als Bundeskanzler, den Fokus sehr stark auf die Wirtschaft zu legen. Das heißt, der Glaube, das Paradigma, dass Wirtschaft gleich Wohlstand gleich Glück bedeutet, hat uns seit den 80er-Jahren tatsächlich zu unserem heutigen Wohlstand geführt. Das heißt also, die Entscheidungen damals waren sicherlich nicht verkehrt. Nun ist es so, dass wir natürlich in einer Wohlstandsökonomie und in einer Wohlstandsgesellschaft leben, die auch ihre Tücken und auch ihre Nischen hat, insbesondere was wir bei den jungen Leuten heute beobachten. Warum sollen sich junge Leute heute noch besonders anstrengen, warum sollen sie überhaupt noch besonders kreativ sein, warum sollten sie eigentlich noch herausstechen beispielsweise durch Leistung, warum sollten sie besonders an ihrer Persönlichkeit arbeiten.
Die Herausforderungen, die wir als Gesellschaft heute an die jungen Leute pflegen, funktionieren noch nach diesen alten Mustern. Aber was wir brauchen, das sagen die jungen Leute mir auch, ist einfach ein neues Gesellschaftsbild. Wir brauchen ein neues Verständnis von der Art und Weise, wie wir in Zukunft leben wollen. Eins ist klar: Wie wir in der Vergangenheit gelebt haben, wollen diese nicht mehr leben.
Rabhansl: Sie gehen das an der gesamten Gesellschaft durch. Sie haben jeweils ein Kapitel zu Familie, zu den Schulen, zu den Unis, zur Politik, auch zur Wirtschaft. Wir reden jetzt hier heute über Bildung, insofern konzentrieren wir uns auf die Kapitel zur Schule und zu den Unis. Sie attestieren einen völlig falschen Leistungsbegriff, es gehe immer nur darum zu funktionieren.
Lembke: Es geht darum, sich erst mal an das vorherrschende System anzupassen. Studierende oder Schüler haben kaum oder gar keine Möglichkeit, diese schulischen Systeme nach ihren Bedürfnissen und Bedarfen mitzugestalten. Letztendlich haben wir da ein altes System aufgebaut, das schon lange nicht mehr richtig funktioniert. Insofern ist das erste Verhalten ein Anpassungsverhalten.
Das zweite Verhalten ist, dass, wenn du etwas tun musst, du aber nicht willst, du auch nicht besonders motiviert bist. Das heißt, das große Thema ist eigentlich das der Lernmotivation heute. Da beobachten wir ein zweites Verhalten, dass das Erzielen von beruflicher Qualifikation oder auch von persönlicher, kreativer Qualifikation letztendlich den Klausuren, dem Scheine machen, den Noten untergeordnet wird. Das war schon immer so, aber noch nie in so einer Deutlichkeit, wie es die jungen Leute heute offen sagen.

Kein Lernen ohne klare Regeln

Rabhansl: Sie schreiben in Ihrem Buch sehr deutlich, dass es an den Unis kaum noch selbstkritisches Denken gibt und kritisches Denken, das gefördert wird. Sie schreiben auch, dass die jungen Menschen kaum noch in der Lage seien, ihre eigene Leistungsfähigkeit realistisch einzuschätzen. Und gelegentlich, muss ich sagen, liest sich das Buch wie das eines Bildungsnostalgikers. So, als sei früher alles besser gewesen – wenn Sie zum Beispiel die mangelnde Autorität beklagen, fehlende Umgangsformen, wenn Sie schreiben, dass es ohne klare Regeln kein Lernen gibt. War Bildung, war Schule früher besser?
Lembke: Also es war jedenfalls nicht schlecht. Und wir wissen nicht, wie es in Zukunft sein soll. Deswegen ist es schwer, so einen Ist-Soll-Vergleich zu machen. Aber ich plädiere dafür, nicht jegliche Werte, sowohl die traditionellen, als auch konservative Werte, die sich in der Vergangenheit etabliert haben und auch durchaus erfolgreich waren, völlig vom Tisch zu wischen.
Was wir tun müssen, ist, diese neu zu interpretieren. Wenn es also um den Begriff der Autorität geht, dann ist es tatsächlich so, dass die jungen Leute heute und in Zukunft die Autorität qua Funktion – also weil ich Professor, weil ich Lehrer bin oder weil ich eine bestimmte Stellung habe in der Gesellschaft – nicht grundsätzlich akzeptieren. Sie stellen sie infrage. Autorität müssen wir umdefinieren. Das ist Autorität nicht durch die Funktion, sondern durch die Fähigkeit, sich in die jungen Leute einzudenken, Empathie und Kommunikation einzusetzen, um mit den jungen Leuten gemeinsam deren Lernbedürfnisse und Entwicklungsbedürfnisse zu gestalten.
Wenn das gelingt, dann ist Autorität da. Aber das ist etwas ganz anderes, als das, was wir früher hatte. Insofern: Ja, es gibt einiges Gutes von früher, aber wir müssen es neu interpretieren.
Rabhansl: Was also tun? Das ist die klassische Schlussfrage, und so heißt auch ihr Abschlusskapitel. Wenn wir uns auch da noch mal auf die Schulen und Unis konzentrieren: Was sollte passieren?
Lembke: Wir brauchen einen neuen Typus von Lehrer und Professor. Menschen, die nicht nur pädagogisch und didaktisch gebildet sind, da sind wir schon gut aufgestellt. Auf der einen Seite brauchen wir viel stärker weichere Faktoren, sowohl in der Qualifikation dieser Berufsgruppen als auch bei der Einstellung. Die Menschen der Zukunft müssen auf diese jungen Leute eingehen können, sie müssen geführt werden. Sie müssen mit ihnen auf Augenhöhe sprechen. Das ist heute für viele in diesen Berufsbildern ein großes Problem, jedenfalls in der älteren Generation. Und da müssen wir wirklich den zentralen Hebel ansetzen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Gerald Lembke: "Verzockte Zukunft: Wie wir das Potenzial der jungen Generation verspielen"
Beltz Verlag, Weinheim 2019
224 Seiten, 18,95 Euro

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