Friedenspreis an Serhij Zhadan

Zerbombte Wohnviertel als Resonanzraum für Dichtung

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Verleihung Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2022 an den ukrainischem Schriftsteller Serhij Zhadan
Viel Applaus für Serhij Zhadan: Der ukrainischer Schriftsteller und Musiker nach seiner Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2022 in der Frankfurter Paulskirche. © picture alliance / dpa / Sebastian Gollnow
Von Ludger Fittkau · 23.10.2022
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"Ohne Gerechtigkeit gibt es keinen Frieden“ - das machte Serhij Zhadan, der diesjährige Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, in seiner Dankesrede klar. Der ukrainische Schriftsteller wandte sich darin gegen einen "falschen Pazifismus".
Serhij Zhadan, der am gestrigen Sonntag mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnete ukrainische Schriftsteller und Musiker, fährt nun wieder in die „Kontaktzone des Todes“ – in seine Heimatstadt Charkiw, wie er sagt. Dort werde er bei seiner humanitären Hilfe auch für die Soldaten an die Front auch wieder in deren Augen blicken. Denn es seien die Augen, die neben der Sprache und der Erinnerung im Krieg verändert worden seien: Sie seien wie „erstarrtes Metall“ oder auch Glas, im dem sich das äußere Feuer spiegele. Auch die Dichtung werde nach Butscha und Isjum für immer anders sein.
Wenn er in seiner Wohnung im 18. Stockwerk des Hochhauses in Charkiw am Fenster steht, kann  Serhij Zhadan genau sehen, von wo aus hinter der nahen Grenze die russische Armee die Raketen auf seine Heimatstadt abschießt. Sicher wünsche er sich persönlich auch sehr, dass dieser Raketenbeschuss aufhöre, so Zhadan in seiner Friedenspreisrede in der Paulskirche in Frankfurt am Main, die er auf Deutsch hielt.

Ein eingefrorener Konflikt bringt keinen Frieden

Aber: „Wenn wir jetzt angesichts dieses blutigen, dramatischen und von Russland entfesselten Krieges über Frieden sprechen, wollen einige eine simple Tatsache nicht zur Kenntnis nehmen: Ohne Gerechtigkeit gibt es keinen Frieden.“ Es gäbe zwar verschiedene Formen eines eingefrorenen Konfliktes, so Serhij Zhadan. Es gibt die zeitweilig besetzten Gebiete und es gäbe Zeitbomben, getarnt als politische Kompromisse. Aber einen echten Frieden - einen Frieden, der Sicherheit und Perspektive böte, gäbe es mit einem eingefrorenen Konflikt leider nicht.
„Und wenn manche Europäer den Ukrainern ihre Weigerung, sich zu ergeben, fast schon als Ausdruck von Militarismus und Radikalismus anlasten, tun sie etwas Merkwürdiges: Beim Versuch, in ihrer Komfortzone zu bleiben, überschreiten sie umstandslos die Grenze der Ethik. Das ist keine Frage an die Ukrainer, das ist eine Frage an die Welt. An ihre vorhandene oder nicht vorhandene Bereitschaft wegen fragwürdiger materieller Vorteile und eines falschen Pazifismus-Willens, ein weiteres Mal das total enthemmte Würdelose zu schlucken.“
Der ukrainische Schriftsteller und Musiker Serhij Zhadan zieht bisher nicht mit einem Gewehr in den Kampf. Er schultert keine Panzerfaust, bedient nicht den Steuerungscomputer eines Raketenabwehrsystems. Doch er organisiert einer Armee-Einheit, die in der Nähe von Charkiw kämpft, einen Kühlwagen zum Abtransport von Leichen. Auch da geht es um Würde, in der wie er sagt „kalten Nicht-Zeit des Krieges“ mit dem verzerrten Panorama von Raum und Zeit.

Charkiw wieder als Stadt der Dichter

Dann wieder gibt der Dichter, der auch Sänger ist, Konzerte in U-Bahnstationen seiner Stadt, in die die Menschen fliehen, wenn wieder die Alarmsignale ertönen. Und das ist gerade wieder ziemlich häufig der Fall. Doch ihr werdet sehen, ruft Zhadan der Weltöffentlichkeit zu: Charkiw, die Stadt in der auch heute unter Kriegsbedingungen noch die meisten Bücher des Landes gedruckt werden, werde einst wieder die Stadt der Dichter und Universitäten sein.
Seine großartige Laudatorin, die Autorin Sasha Marianna Salzmann, ist selbst noch in Russland geboren und verbrachte ihre ersten Lebensjahre dort. Die Literatur Serhij Zhadans sei ohne die Vorgeschichte der Perestroika nicht zu begreifen, so Salzmann: „Ganz unzweifelhaft spricht sie für jene Generation von Ukrainer*innen, die sich von dem Post-Diktaturen-Schutt, dem Erbe der Sowjetunion haben mühsam befreien müssen.“
Zhadans zahlreiche Gedicht- und Erzählbände sowie die Romane entfalten für sie eine Wirkung, die sie an die Wirkung von Pieter Bruegel erinnere. Der Kampf zwischen Karneval und Fasten, die Kinderspiele, die Bauernhochzeit. Es seien hektische Wimmelbilder, so aufregend, dass man unfähig sei wegzuschauen und den Wegen der Portraitierten nachspüren müsse: Wie sind sie dort hingelangt, was ist ihnen auf dem Weg geschehen? Und woher komme das Licht in ihren Gesichtern?

Literatur nach Butscha

„Zhadan malt Tableaus, auf denen unvergessliche Randgestalten sich in das Bewusstsein der Leserschaft hineinsaufen und hineinraufen. Sich einmeißeln in das Narrativ einer sich neu verortenden ukrainischen Gesellschaft.“ Einer Gesellschaft, so Serhij Zhadan, in der es auch nach Butscha künftig Literatur geben wird. Aber eine Literatur, die für immer anders sein werde als vor Butscha.
„Natürlich ist Dichtung nach Butscha und Isjum weiterhin möglich. Ja, sie ist sogar notwendig. Aber der Schatten von Butscha und Isjum, die Präsenz dieser Orte, wird in dieser Nachkriegsdichtung tiefe Spuren hinterlassen und ihren Gehalt und Klang prägen.“
Dies sei schmerzlich und zugleich unabweislich: Dass Massengräber und zerbombte Wohnviertel von nun an der Resonanzraum für die Dichtung sein werden, die künftig in der Ukraine geschaffen wird. Nicht nur vom diesjährigen Friedenspreisträger Serhij Zhadan.
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