Florian Werner liest Musik

"Die Ohrbooten": Tanzen statt Denken

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Die Ohrbooten - gestartet als Straßenmusiker, heute auch auf großen Konzertbühnen und Festivals mit dabei. © picture alliance / dpa / Hannibal Hanschke
Von Florian Werner · 17.06.2015
Ursprünglich stammen Die Ohrbooten aus der Berliner Straßenmusikszene. Seit nunmehr zehn Jahren spielen sie ihre Melange aus Hip-Hop, Reggae, Pop und Weltmusik. Gerade ist ihr fünftes Album "Tanz mal drüber nach" erschienen. Florian Werner hat den Titelsong gelesen.
"Schmeiß ich jetzt die Schule oder mach ich Abitur?
Tanz drüber nach, tanz drüber nach
Brauch ich Therapie oder reicht vielleicht ne Kur?
Tanz drüber nach, tanz drüber nach ... "
Existenzielle Fragen
Ja, das sind so Fragen, die man sich als immerwährender Jugendlicher in Berlin nach dem dritten Bier oder vierten Joint gerne stellt. Und wie bei allen existenziellen Fragen fallen die Antworten − zumal nach dem Genuss von Rauschmitteln − eher schwer: Rationales Abwägen führt zu nichts, Grübeln nur weiter in den Abgrund ... Vielleicht, so die Berliner Band Ohrbooten, ist das Problem aber auch gar nicht intellektuell zu lösen − sondern nur durch Bewegung:
"Tanz drüber nach, tanz drüber nach,
Kopf zu, Herz auf, hör auf zu denken,
Tanz drüber nach, tanz drüber nach,
Brust rein, Bauch raus, fang an zu dancen!"
Eine überraschende Aussage
Dancen statt Denken: Das klingt, ist aber selbst innerhalb der Logik der Tanzmusik eine überraschende Aussage. Schließlich lautet die klassische Position, formuliert durch den Funk-Hohepriester George Clinton: Zuerst muss der Geist befreit werden − dann wird der Körper, oder wie Clinton es in metonymischer Verkürzung ausdrückt: "der Arsch", schon folgen.
Die Ohrbooten kehren dieses Verhältnis zwischen Leib und Seele kurzerhand um, stellen die Aussage vom Kopf auf den Hintern; oder wie man in Anlehnung an Funkadelic sagen könnte: Free your ass and your mind will follow.
"Tanz drüber nach, tanz drüber nach,
Tanz auf der Straße, tanz im Zuhause,
Komm schon, beweg deinen Arsch
Und tanz drüber nach, tanz, tanz drüber nach ... "
Der Hintern - das Zentrum jeder Tanzbewegung
Der Hintern, die Hüfte, das Becken − das ist einerseits das Zentrum, von dem jede Tanzbewegung ihren Ausgang nimmt. Andererseits ist es aber auch ein Körperteil von enormer Symbolkraft: Anders als der in höhere Sphären strebende Kopf steht das Gesäß für Bodenständigkeit, Bescheidenheit, Brüderlichkeit. Wie es der Philosoph Peter Sloterdijk formuliert:
"Der Arsch ist der Plebejer, der Basisdemokrat und der Kosmopolit unter den Körperteilen. Er liefert die solide materialistische Basis."
"Man kann mich beherrschen, ich tanz wie auf Scherben,
Klamotten auf dem Boden und ich gehe da drauf Surfen,
Ich bin nackt in der Disco, fühle mich wie Christus,
Hab nur Liebe im Herzen für die ganzen Schizos ... "
Symbol der Liebe
Gesagt, getanzt: Als guter Plebejer mischt sich der Rapper der Ohrbooten gegen Ende des Songs unter die Menschen und entblößt vor ihnen sein basisdemokratisches Organ. Ein Zeichen der Demut? Der Entfesselung von allen zivilisatorischen Schranken? Oder ein Symbol seiner Liebe zu allen anderen Erniedrigten, Geisteskranken, Hinterngesteuerten? Wie schon zu Anfang: Fragen über Fragen.
"Was ist rot-weiß gestreift und sitzt auf'm Baum?
Denk mal drüber nach ... "
Zugeben: Ein etwas wirrer Text. So richtig durchdacht wirkt er nicht. Durchtanzt ... hingegen schon.
"Komm schon, beweg Deinen Arsch und tanz drüber nach, Tanz, tanz drüber nach!"
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