Fehlgeburt

Doch kein Baby

25:15 Minuten
Symboldbild für den Verlust einer Schwangerschaft/eines Kindes: Eine Holzfigur hat in ihrem Unterleib eine Auslassung in Form einer kleinen Figur.
Fehlgeburten sind häufiger, als die meisten denken. Doch weil so wenig über sie gesprochen wird, fühlen sich Betroffene oft allein mit ihrem Verlust. © IMAGO / YAY Images / IMAGO
07.04.2024
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Rund jede dritte Frau erleidet mindestens eine Fehlgeburt im Leben. Obwohl diese Erfahrung so häufig und potenziell traumatisch ist, werden die Betroffenen oft nicht angemessen versorgt: weder medizinisch noch psychologisch.
Als Eva Lindner im Februar 2021 nachts aufwacht, realisiert sie sofort, dass sie gerade ihr Kind verliert. Wasser läuft aus ihr heraus, alles fühlt sich an wie bei der Geburt ihrer älteren Tochter. Damals war ihre Fruchtblase geplatzt, so wie jetzt auch. Doch diesmal ist Lindner erst in der 16. Woche schwanger.
Ein paar Stunden zuvor sind Lindner und ihr Mann von einem Abendessen mit Freunden zurückgekommen. Die Journalistin entdeckt etwas Blut in ihrem Slip, ist besorgt. Doch heißt es nicht, dass so etwas vorkommen kann? Lindner und ihr Mann entscheiden abzuwarten, und legen sich schlafen.
Als Linder wieder wach wird, schafft es das Paar gerade noch, die Tür zum Kinderzimmer ihrer schlafenden Tochter zu schließen, bevor die Schwangere mit Krämpfen ins Badezimmer läuft. "Dann sind Gewebestücke aus mir rausgekommen, Blut.“ Ihr Mann fällt in Ohnmacht, Linder kämpft allein mit den Schmerzen. "Irgendwann habe ich ihn angeschrien, dass er mir jetzt helfen muss.”
Gemeinsam rufen sie die Hebamme an. "Sie hat sofort gewusst, was gerade passiert", erinnert sich Lindner. "Und hat mich dann angeleitet dazu, dass wir jetzt dieses Kind aus mir rausholen müssen, dass mein Mann mir helfen soll. Und nach dieser Anleitung haben wir das Kind rausgeholt, das tot war.”

Jede dritte Frau erlebt mindestens eine Fehlgeburt

Eva Linder hat eine Erfahrung gemacht, die jedes Jahr weltweit 23 Millionen Frauen betrifft. Laut internationalen Statistiken und Schätzungen des Berufsverbands der Frauenärzte hat etwa jede dritte Frau mindestens eine Fehlgeburt in ihrem Leben.
Wie viele Fehlgeburten es in Deutschland gibt, ist jedoch nicht genau bekannt. Denn sie sind hierzulande erst ab der 24. Schwangerschaftswoche meldepflichtig oder wenn das Kind mindestens 500 Gramm wiegt: eine Totgeburt, wie es dann medizinisch und juristisch heißt. Betroffene Eltern und Initiativen sprechen oft lieber von einem "Sternenkind” oder einer "Stillen Geburt”.
Häufiger sind die frühen Fehlgeburten. Das Risiko gerade in den ersten Wochen ist vielen bewusst, sodass sich werdende Eltern oft dazu entscheiden, ihrem Umfeld zunächst nicht von der Schwangerschaft zu erzählen - und anschließend auch nicht, falls sie vorzeitig geendet ist. Auch das führt dazu, dass vielen nicht klar ist, wie verbreitet Fehlgeburten sind.
So glaubt auch Eva Lindner zunächst, dass sie in ihrem Freundeskreis mit ihrer Erfahrung allein ist. Tatsächlich kannte sie aber auch damals schon viele andere Betroffene. "Ich wusste nur nicht davon. Weil sie es mir nicht erzählt haben, weil sie eben meistens nicht viel darüber sprechen.“
Porträtfoto der Journalistin Eva Lindner
Die Journalistin Eva Lindner hatte selbst eine Fehlgeburt, bevor sie ein Sachbuch über das Tabuthema geschrieben hat. © IMAGO / Funke Foto Services

Fehlgeburten werden oft nicht gut versorgt

Dass Fehlgeburten gesellschaftlich stark ausgeblendet werden, trägt dazu bei, dass die medizinische Versorgung der Betroffenen schlechter ist als sie sein könnte. Wenige Wochen nachdem Eva Lindner ihr Kind verliert, erscheint in der medizinischen Fachzeitschrift "The Lancet” eine Studienserie zum Thema Fehlgeburten. Für einen wissenschaftlichen Text ist "Miscarriage: worldwide reform of care is needed” in einem ungewöhnlich scharfen Ton verfasst: „Viel zu lange wurden Fehlgeburten heruntergespielt und abgetan”, heißt es darin. "Der Mangel an medizinischem Fortschritt sollte uns schockieren. Stattdessen herrscht ein allgegenwärtiges Hinnehmen von Leid.”
Wie eine Fehlgeburt behandelt wird und behandelt werden sollte, hängt auch von den Umständen ab. Nicht immer beginnt sie mit einer Blutung wie bei Eva Lindner. Bei einer sogenannten verhaltenen Fehlgeburt stirbt das Kind im Mutterleib, ohne dass die Frau es direkt bemerkt. Dass die Schwangerschaft geendet ist, erfährt sie so zum Beispiel erst, wenn sie bei der nächsten Vorsorgeuntersuchung ist und kein Herzschlag festgestellt werden kann.
In Deutschland bieten Ärztinnen und Ärzte bei einer Fehlgeburt auffallend oft eine Ausschabung an. Der operative Eingriff ist hierzulande nicht nur häufiger als in anderen EU-Ländern, sondern auch häufiger als nötig. Frauen fühlen sich oft überrumpelt, erleben einen starken Kontrollverlust und werden nur selten über Alternativen aufgeklärt.

Die drei Wege der selbstbestimmten Fehlgeburt

Laut der Gynäkologin Nora Szász, die sich bei der Organisation "Doctors for Choice” engagiert, ist dieses Vorgehen nicht mehr zeitgemäß. So wird bis zur 12. Schwangerschaftswoche auch die sogenannte "selbstbestimmte Fehlgeburt” international anerkannt und empfohlen. Denn neben der operativen Entfernung des Embryos hätten die Patientinnen auch zwei andere Optionen.
Erstens ist es möglich, zunächst abzuwarten, ob es nach der verhaltenen Fehlgeburt von selbst zu einer Blutung kommt und der Embryo abgeht. Eine zweite Möglichkeit besteht in einer Behandlung mit Misoprostol: ein Medikament, das zum Zusammenziehen der Gebärmutter und Weichwerden des Gebärmutterhalses führt und dadurch die Fehlgeburt auslöst. Ihr Eintritt ist dann etwas planbarer als beim Abwarten.
Und dann, als dritte Möglichkeit, gibt es das operative Vorgehen. Doch statt der Ausschabung kann auch eine Saugkürettage durchgeführt werden, bei der das Schwangerschaftsgewebe abgesaugt wird. "Der Grund, warum das heute eigentlich als Standard gilt, ist, dass es die Schleimhaut der Gebärmutter schont. Was auch wichtig ist für weitere Schwangerschaften“, erklärt Szász.
Doch die beschriebenen Optionen sind für Frauen mitunter nur theoretische Möglichkeiten. Denn nicht alle Kliniken und Praxen sind mit den notwendigen Geräten für eine Saugkürettage ausgestattet. Seit 2021 mangelt es zudem am Medikament Misoprostol. Außerdem gibt es im Vergütungssystem Fehlanreize für ein operatives Vorgehen: Eine nicht-chirurgische Begleitung einer Fehlgeburt ist im Vergütungssystem für Kassenärzte nicht vorgesehen.

Mehr Empathie für trauernde Eltern

Die Missstände in der Versorgung der betroffenen Frauen haben auch damit zu tun, dass in Deutschland bei einer einzelnen Fehlgeburt keine Leitlinie greift: Eine solche evidenzbasierte Handlungsempfehlung, an der sich das medizinische Personal orientiert, gibt es erst ab der dritten Fehlgeburt.
Das Fehlen einer Leitlinie wirkt sich nicht nur auf die akute körperliche Behandlung der betroffenen Frauen aus, sondern auch auf die psychische Versorgung. Dabei haben Frauen laut der "Lancet"-Studie nach einer Fehlgeburt ein erhöhtes Risiko, an einer Angststörung, Depression oder einer Traumafolgestörung zu leiden. Sogar das Suizidrisiko steigt. Doch sehr oft ist den Behandelnden nicht bewusst, dass eine Fehlgeburt potenziell traumatisch ist.
Eva Lindner muss wegen des starken Blutverlustes bei ihrer Fehlgeburt im Krankenhaus behandelt werden. Dabei müssen in einem kurzen Eingriff auch Plazentareste aus ihrer Gebärmutter entfernt werden. „Ich habe geweint und geschluchzt und die ganze Zeit gerufen: mein Baby, mein Baby!”, erinnert sich die Journalistin heute. "Wir haben auf den Einlass in den OP gewartet und die Pflegerinnen und der Anästhesist waren da. Und die haben neben meinem Bett gescherzt.” Da habe sie sich wie in einer Parallelwelt gefühlt: Sie liege da, verliere sich und ihr Kind. "Und neben mir tun Leute so, als wäre nichts.“
Ohne weitere Hilfestellungen oder Kontakte werden Eva Lindner und ihr Mann nach dem Eingriff nach Hause geschickt. Ob Menschen nach einer Fehlgeburt eine Anlaufstelle für ihre Trauer finden, ist in Deutschland eine Frage des Wohnorts und des Zufalls. Lindner findet über das Internet eine Selbsthilfegruppe.
Situationen, wie sie Eva Lindner nach ihrer Fehlgeburt erlebt, wären vergleichsweise leicht zu vermeiden. Denn das medizinische Personal kann einen einfühlsamen Umgang trainieren. In der Krebsmedizin beispielsweise ist das Standard, in der Gynäkologie aber bisher nicht. Die Autorinnen und Autoren der "Lancet"-Studie fordern, dass die psychologische Versorgung der betroffenen Frauen auch durch Screenings und Therapien verbessert werden sollte.
Die Journalistin Lindner beschließt auch wegen ihrer Erfahrungen in der Klinik, ein persönliches Sachbuch zu schreiben. Für ihr Buch "Mutter ohne Kind” macht sie sich auf die Suche nach Antworten, interviewt Fachleute. Und mitten im Schreibprozess stößt sie auf eine wichtige Zahl: 75 Prozent der Frauen, die eine Fehlgeburt erleiden, bringen danach ein gesundes Kind zur Welt. Ein tröstlicher Wert, findet Eva Lindner. Zumindest, wenn Eltern davon zu einem passenden Zeitpunkt erfahren. Nicht im Moment des Verlusts, sondern eher zur Nachuntersuchung.

jfr
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