Sternenkinder

Wenn Geburt und Tod sich berühren

06:31 Minuten
Friedhofsgrab mit vielen bunten Beigaben
Friedhof für Sternenkinder: Erst seit einigen Jahren können die Totgeborenen offiziell bestattet werden. © picture alliance / Geisler-Fotopress / Christoph Hardt
Von Ludger Fittkau · 15.11.2021
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Der Verlust eines Neugeborenen ist eine traumatische Erfahrung. Das Sternenkinderzentrum hilft bei der Trauerbegleitung. Die Vereinsvorsitzende Helga Schmidtke fordert mehr Sensibilität, auch von Seiten der Medizin.
Ein Hund schlägt an. „Moment!“, ruft Helga Schmidtke aus dem geöffneten Fenster. Der Hund lässt sich nicht sofort beruhigen. Doch irgendwann duldet er den unbekannten Besucher im Haus der gelernten Krankenschwester mitten im Spessart, wo sie wohnt.
Helga Schmidtke ist die Vorsitzende eines gemeinnützigen Vereins in Südhessen, der sich seit 2015 um die sogenannten Sternenkinder kümmert. „Ein Sternenkind im Sinne des Gesetzes in Hessen hat ein Geburtsgewicht bis zu 500 Gramm und keine Lebenszeichen. Das heißt: keine Atmung, kein Herzschlag und keine pulsierende Nabelschnur“, erläutert Schmidtke. Wenn auch nur „eine Pulsation in der Nabelschnur“ nach der Geburt sichtbar ist, sei es kein Sternenkind. Schließlich sei dies ein Lebenszeichen.
Bezüglich der Bestattung bedeutet das: „Ein Sternenkind im Sinne des Gesetzes ist nicht bestattungspflichtig. Das hat natürlich viele Konsequenzen für die Eltern.“ Früher seien diese Kinder auch nicht bestattet worden. „Wenn die Eltern Glück hatten, sind diese Kinder in einem anderen Grab einfach beigelegt worden.“
Bis vor einem knappen Jahrzehnt wurden Totgeborene mit einem Gewicht von unter 500 Gramm beim Standesamt nicht erfasst. Damit existierten diese jährlich geschätzt rund 1500 Sternenkinder auch juristisch nicht.

Keine Abtreibungsgegnerin

2013 erreichte dann ein Paar aus Hessen mit einer Petition, dass der Bundestag erstmals eine gesetzliche Regelung beschloss, nach der auch Fehlgeburten in frühen Schwangerschaftswochen mit Namen beim Standesamt registriert und anschließend auch bestattet werden können.
Sie seien noch immer auf der Suche nach einem Begriff anstatt des Wortes Fehlgeburt, sagt Helga Schmidtke: auch für die Familien, die betroffenen Eltern. Schließlich sei es „eine ganz normale Geburt. Das heißt, die Frauen bringen ihr Kind auf die Welt, haben Wehen, haben ein Wochenbett, auch in der Frühschwangerschaft schon. Das ist noch gar nicht so präsent."
Helga Schmidtke spricht bereits von Leben, wenn Ei und Samenzelle verschmolzen sind. Damit bezieht sie eine ähnliche Position wie etwa die Katholische Kirche, die damit auch grundsätzlich gegen eine Fristenlösung bei der Abtreibung argumentiert. Doch der südhessische Sternenkinder-Verein, dem sie vorsitzt, verstehe sich nicht als religiös, und sie persönlich sei auch keine Abtreibungsgegnerin, betont Helga Schmidtke.
„Ich glaube, es ist wichtig zu sagen, dass ich niemand bin, der grundsätzlich per se gegen Schwangerschaftsabbrüche ist. Ich glaube, das ist einfach noch einmal ganz, ganz wichtig, auch zu benennen. Es gibt einfach Situationen im Leben, da ist es manchmal wirklich der einzige Weg für mich.“
Es sei aber „immer die Challenge dahinter: Wie gehe ich damit um?“ Daher ist es aus ihrer Sicht so wichtig, „dass es gute Ärzte und gute Kliniken gibt, die Schwangerschaftsabbrüche machen. Wenn wir die nicht hätten, dann müssten Frauen einfach wieder in dunkle Hinterhöfe gehen. Dann sprechen wir natürlich wieder über gefährliche Geburtssituation für Frauen.“
Ihr in Südhessen aktiver gemeinnütziger Verein, der offiziell „Sternenkinderzentrum Odenwald e.V.“ heißt, ist eingetragen als ambulanter Kinderhospizdienst. Acht Palliativ-Care-Fachkräfte engagieren sich dort – weitgehend spendenfinanziert. „Weil unsere Arbeit eben nicht nur die Sternenkinder beinhaltet.“
Es gebe „eben auch Kinder, die geboren werden und behindert sind, krank sind und eben nach der Geburt versterben oder eben in den ersten Lebensmonaten oder Lebensjahren“. Die zweite Säule des Vereins sei die Familien-Trauerbegleitung. „Wir begleiten auch Familien, wo jetzt zum Beispiel ein Vater oder eine Mutter verstorben ist, und begleiten da die Kinder.“

Eine Geburt im Schockzustand

Eine besonders schwierige Situation für Frauen und Paare sei es etwa, wenn eine Schwangere die Diagnose bekomme, ihre Leibesfrucht sei im Mutterleib abgestorben, berichtet Helga Schmidtke. „Ich trage ein Kind in mir, das wächst und gedeiht. Rein hormonell ist der Körper auch immer noch in diesem Flow drin. Jetzt ist dieses Kind verschwunden, verstorben, und der Körper braucht Zeit, um zu begreifen, dass das passiert ist.“
Das bedeute viele hormonelle Umstellungen, gehe nicht von heute auf morgen und schon gar nicht von einer Sekunde auf die andere. „Die Psyche hinkt da hinterher. Das heißt, wenn Frauen nach so einer akuten Diagnose sofort in die Klinik gehen zur Einleitung, dann ist es immer so, dass irgendwann im Nachgang der Punkt kommt, dass die Frauen sagen: Das ist wie an mir vorbeigegangen. Klar, wenn ich im Schock bin, bin ich nicht bei mir.“
Ein Moment des Innehaltens wäre für die Betroffenen oft wichtig, schildert Helga Schmidtke die Situation. Es gehe eben auch darum, sich seelisch darauf vorzubereiten, ein totes Kind zu gebären. Das sei für viele Frauen – und auch ihre männlichen Partner – oft schlecht auszuhalten, erlebt Helga Schmidtke in der Begleitung: „Das ist ein Widerspruch in sich.“
Um ein Kind zu gebären, müsse man sich öffnen. „Wenn ich aber weiß, am Ende des Weges stehe ich auf dem Friedhof, dann werde ich das nicht tun. Das ist ein unbewusster Prozess. Das wird oft nicht thematisiert.“ Stattdessen gehe die Schulmedizin mit invasiven Möglichkeiten in die Geburtssituation: Es werden Medikamente gegeben, „noch und nöcher“.
„Ich habe es auch schon erlebt, dass Frauen zwei Wochen immer wieder in der Einleitung waren und es einfach nicht funktioniert hat. Natürlich nicht. Wenn ich nicht weiß, was kommt auf mich zu, wenn ich Angst habe, am Ende des Weges mein Kind in die Erde zu legen, dann gehe ich einfach schon gar nicht in die Geburtssituation.“
Ein heikles Thema – Stoff auch für die Weiterbildung in der Geburtshilfe. Die leistet Helga Schmidtke auch, etwa an Hebammen-Schulen. Dort berichtet sie regelmäßig über ihre Arbeit mit den Sternenkindern.
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