Philosophischer Wochenkommentar

Plädoyer wider die Einfachheit

04:35 Minuten
Illustration Ein Wissenschaftler baut ein Molekülmodell auf.
"Klären Sie uns auf, aber machen Sie es bitte einfach": Mit dieser Forderung sehen sich Wissenschaftler konfrontiert, die in dem Medien als Experten auftreten. © imago / Ikon Images / Gary Waters
Von David Lauer · 02.07.2023
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Ob Virologie, Meteorologie oder Philosophie: Experten sollen ihr Wissen einfach erklären, heißt es. Doch die Forderung nach Einfachheit hat manchmal unerwünschte Effekte – statt zu Integration führt sie öfter zu Ausschlüssen, meint David Lauer.
Wir betrachten es als Ausweis höchster Kompetenz in einem Fachgebiet, wenn eine Person in der Lage ist, das, was sie weiß, in eine so klare und einfache Form zu bringen, dass auch Laien es verstehen können – es „herunterzubrechen“, wie man so sagt.
Und Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die in der medialen Öffentlichkeit als Experten ihres Fachs auftreten – egal, ob es sich um Klimawissenschaft, Virologie oder angewandte Ethik handelt – sehen sich oft genau diesem Anspruch ausgesetzt: Erzählen Sie uns, was Sie wissen, klären Sie uns auf, aber machen Sie es bitte einfach – so einfach, dass jeder es versteht. Und das scheint nur recht und billig zu sein: Wissenschaft ist hierzulande noch immer eine zum größten Teil öffentlich finanzierte Angelegenheit.

Alle haben ein Recht auf verständliche Information

Die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf, über die Resultate ihrer Investition informiert zu werden, und zwar so, dass sie mit dieser Information auch etwas anfangen kann. Zudem ist die Forderung nach Einfachheit zugleich auch eine demokratische Forderung nach mehr Inklusivität: Möglichst viele sollen Zugang haben, sich informieren und mitreden können, möglichst wenige durch unnötige Kompliziertheit ausgeschlossen werden, hinter der man patriarchalen Dünkel und die Verteidigung elitärer Privilegien wittert – oft nicht zu Unrecht.

Verständlich ist, was man eh schon weiß

Dennoch ist die Forderung nach Einfachheit ein zweischneidiges Schwert. Es gibt gute Gründe, sie zu respektieren, doch die Wissenschaft, vor allem aber die Philosophie, tut gut daran, auch auf ihre Nachtseite mit Nachdruck hinzuweisen. Denn was als „einfach“, also als leicht nachvollziehbar wahrgenommen wird, ist häufig nur das, was die eh schon bestehenden Erwartungen der Hörenden bestätigt und ihnen aus diesem Grund eingängig erscheint.
Wenn Einfachheit zum Kriterium für Akzeptabilität wird, besteht deshalb die Gefahr, dass man nur das für relevant hält, was die eigene Voreingenommenheit bestätigt.

Komplexität ist Vielfältigkeit

In diesem Sinne wettert Theodor Adorno in seinen Minima Moralia dagegen, dass die Menschen der „Anstrengung des Begriffs“ bewusst entwöhnt werden: „Nur, was sie nicht erst zu verstehen brauchen, gilt ihnen für verständlich; nur das in Wahrheit Entfremdete, das vom Kommerz geprägte Wort berührt sie als vertraut.“
Nicht nur sprachgeschichtlich, so vermutet Adorno, besteht eine gefährliche Nähe zwischen dem Einfachen und dem Einfältigen. Tatsächlich leiten sich ja die Worte „Komplexität“ und „Kompliziertheit“ von dem lateinischen Verb „plectere“ her, das „verschlingen“ oder „falten“ bedeutet – das Komplexe ist also buchstäblich das Vielfältige. Komplexität ist Vielfältigkeit.

Das Komplexe erfordert neue Denkbahnen

In diesem Sinne hat die feministische Wissenschaftsphilosophin Helen Longino darauf hingewiesen, dass die demokratisch und inklusiv begründete Forderung nach Einfachheit das Gegenteil dessen bewirken kann, was sie will: Wenn Komplexität nicht mehr zugemutet werden darf, weil nur das zu Gehör kommt, was in 30 Sekunden, in 140 Zeichen oder auf einer Folie einleuchtend gemacht werden kann, dann wird alles ausgeschlossen, das verständlich zu machen mehr Arbeit kostet – nicht, weil es in sich unklar wäre, sondern weil zu seiner Verständlichmachung die Grenzen des Eingeschliffenen überwunden werden müssen.

Der Ausschluss des Unbekannten

Wenn nur das sich äußern darf, was sich unmittelbar an die Maßstäbe des „gesunden Menschenverstands“ anschlussfähig zeigt, dann haben alle die schon verloren, die versuchen, Perspektiven und Standpunkte zu artikulieren, die in dieser vermeintlichen Gesundheit bisher nicht auftauchten, weil sie als krank, andersartig oder abseitig galten.
Wer also mehr Inklusivität will, kann nicht umhin, mehr Komplexität, mehr Neuartigkeit, mehr Ungewöhnlichkeit des Denkens und Sprechens zuzulassen, und das heißt eben auch: mehr Herausforderung, mehr Anstrengung des Begriffs – im Zweifelsfall bis an die Grenzen der Überforderung.
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