Ein tiefer Blick in Fan-Szene

Rezensiert von Thomas Jaedicke · 01.07.2012
Gleich 27 Autoren, meist linke Soziologen, beschreiben ein Phänomen: die Fankultur der Fußballvereine. Dabei suchen sie nicht nach einer Definition sondern versuchen Einblicke zu liefern und Verhalten zu erklären.
Stimmungsvolle Gesänge, phantasievolle Choreographien, kritische Transparente gegen seelenlosen Fußballkommerz. Platzstürme, Pyrotechnik, Schlägereien mit der Polizei. Die Ultras sind schwer einzuordnen. In dem Buch "Ultras im Abseits?" versuchen 27 verschiedene Autoren, diese Bewegung zu beschreiben. Das ist aber gar nicht so einfach. Bloß weil alle dieselben Farben tragen und alle dasselbe singen, müssen sie noch lange nicht dasselbe denken.

"Die Ultras-Bewegung ist definitiv nicht nur entstanden, weil es ein Zeichen brauchte gegen eine erhöhte Kommerzialisierung. Sondern auch, weil die Generation davor mit ihren Kutten eben nicht sexy genug war."

Das sagt der Soziologe Gerd Dembowski, einer der Autoren.

"Und man dementsprechend eine andere Jugendkultur brauchte, die sich anders artikuliert, sich anders kleidet, die anders versucht, in den Stadien den Verein zu repräsentieren und sich auch als Gruppe selber eine Identität zu geben."

Dembowski schreibt von einem patchworkartig zusammengesetzten Crossover verschiedener Jugendsubkulturen. Von Normalos über HipHopper bis zu Punks sind alle dabei. Auch die meisten anderen Autoren sehen in dieser Vielfalt der Ultras-Bewegung ein großes Potenzial, das weit über den Fußball hinausreicht. Bis die Ultras von einer anderen Bewegung abgelöst werden, haben sie nach Gerd Dembowskis Ansicht sogar das Zeug dazu, Modernisierer und Identitätsstifter einer ganzen Gesellschaft zu sein, die sich rasend schnell verändert und dabei immer mehr auseinanderfällt.

"Das ist vielleicht eine kleine Schattenseite der Globalisierung: Wenn sich alles ständig verändert, ist die Frage: Was ist mein Verein eigentlich noch? Wenn sich Stadionnamen verändern, wogegen Fans ja auch oft rebellieren. Wenn sich sogar Trikotfarben verändern können. Da bleibt uns als Fans doch nur übrig zu sagen: Wir sind der Verein. Wir sind eigentlich die Identität des Vereins, denn wir bleiben ja immer. Und wir sind die Gemeinschaft."

Die soziale Funktion der Ultras unterstreicht auch der Politologe und Psychologe Martin Thein. Oft seien die Gruppierungen eine Art Familienersatz. Thein hat das in vielen Interviews festgestellt. Ein Vertreter des "Commando Cannstadt", einer Ultras-Gruppe des VfB Stuttgart, erzählte ihm vom großen Engagement der Mitglieder:

"Ich finde es total faszinierend, dass Jugendliche, die in der Schule wohl keine fünf Minuten am Stück still sitzen können, tage- und nächtelang Aktionen fürs Stadion vorbereiten. Lieder dichten oder Texte schreiben. Jeder Pädagoge würde aus allen Wolken fallen, wenn er sehen könnte, wie sich seine oft problematischen Schüler rund um die Ultras-Gruppen engagieren."

Völlig unproblematisch ist das aber nicht, auch das wird in dem Band deutlich. Denn um sich als Gruppe zu fühlen, nutzen viele Ultras klare Feindbilder. Sie bedrohen die Fans aus dem anderen Lager oder auch die Polizei. Konrad Langer macht in seinem Beitrag darauf aufmerksam, dass diese meist rituellen Konflikte offenbar nötig seien, um ein Freund-Feind-Schema aufzubauen. Hasstiraden als notwendige Bedingung im Kampf: Gut gegen Böse.

Wie schmal der Grad zwischen harmlos-provokantem "Räuber und Gendarm"-Gehabe und strafrechtlich relevantem Fehlverhalten ist, zeigt die scheinbar endlose Debatte um Pyrotechnik. Feuerwerkskörper sind gefährlich und deshalb in Stadien verboten. Viele Ultras wollen sich damit aber nicht abfinden. Bengalos gehören für sie unbedingt zur Fankultur. Wie störrische Kleinkinder verniedlichen sie die Gefahr und wollen um jeden Preis an diesem Ritual festhalten. Langer macht diese Haltung anhand einer Stellungnahme der "Schickeria München", einer Ultras-Gruppe des FC Bayern, deutlich.

"Es ist für uns legitim, dass es auch Fußballfans gibt, die die Gesetze des Staates auch mal übertreten. Das rechtfertigt aber keineswegs Sippenhaft, Generalverdacht und Vorverurteilung für alle Fans! Und selbst die, die eben keine Engelchen sind, sind vielleicht ab und an mal Spitzbuben, Schlingel, Narren und Rowdys - aber doch keine 'Verbrecher' im Sinne von ernsthaft Schwerkriminellen."

Mit solchen Aussagen machen sich die Ultras das Leben selbst schwer. Aber gab es jemals eine angepasste Protestbewegung? Bei der ganzen Empörung werde nicht bedacht, schreibt Gerd Dembowski, dass jeder gesellschaftlichen oder wissenschaftlichen Errungenschaft ein abweichendes Verhalten vorausgehe.

Und gerade von ihrer extremen, isolierten Position aus hätten die Ultras schon so manches bewirkt. Das betonen auch Fußballfreunde, die sich nicht mit den Methoden der Ultras identifizieren - im Buch etwa der SPD-Politiker Martin Gerster. Er ist Mitglied im Sportausschuss des Bundestags und sieht es als Erfolg der Ultras-Bewegung, dass eine weitere Aufsplitterung der Spieltage für eine noch stärkere Vermarktung bisher verhindert werden konnte.

"Ultras im Abseits?" liefert keine eindeutige Definition, was Ultras wirklich sind. Dazu ist die Szene viel zu bunt, chaotisch und zersplittert. Dazu kommt, dass die Herausgeber vor allem linke Soziologen als Autoren engagiert haben. Stimmen aus dem kritischen Lager kommen zu kurz. Nur in einem Beitrag erzählen etwa Polizisten von ihrem rauen Dienstalltag, wenn sie sich Woche für Woche mit betrunkenen, randalierenden und prügelnden Fußballfans auseinandersetzen müssen. So wirkt das Buch einseitig - einen tiefen Einblick in die Szene bietet es aber allemal.

Jannis Linkelmann, Martin Thein (Hrsg.): Ultras im Abseits? Porträt einer verwegenen Fankultur
Verlag Die Werkstatt 2012, 272 Seiten, 14,90 Euro

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Cover: Jannis Linkelmann, Martin Thein "Ultras im Abseits? Porträt einer verwegenen Fankultur"© Verlag Die Werkstatt
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