Ein Labyrinth aus Büchern

30.04.2012
Der Schriftsteller Ilija Trojanows hat gemeinsam mit der Fotografin Anja Bohnhof ein neues Buch herausgebracht. Dabei handelt es sich um ein Porträt einer Straße in Kalkutta, der College Street, einer Straße mit unzähligen Buchläden. Trojanow garniert seinen Text mit kleinen Porträts der Anwohner.
Fünf Jahre lang lebte der in Bulgarien geborene, in Kenia aufgewachsene, Deutsch schreibende Schriftsteller Ilja Trojanow in Indien. Mehrere Bücher hat er über dieses "Land des kleinen Glücks" geschrieben, darunter eine "Gebrauchsanweisung für Indien" und einen Bericht über seine Reise entlang des Ganges.

Mit seinem neuen Buch ist er in seine alte Heimat zurückgekehrt: "Stadt der Bücher", so der Titel, ist eine Fingerübung, eine literarische Miniatur: das Porträt einer Straße. Gut einhundertundzwanzig Seiten umfasst das Buch, die meisten davon bestückt mit Großformataufnahmen der Fotografin Anja Bonhof. Im Vergleich zu deren Anteil am Buch nimmt sich Trojanows Text bescheiden aus. Dennoch handelt es sich nicht um ein reines Fotobuch mit Bildunterschriften. Denn es geht in Bild und Wort vor allem um eins: das Buch.

Bücherstadt - so nennen sich etliche Ortschaften, verteilt in der ganzen Welt, innerhalb deren Mauern eine unübersehbare Dichte von Buchläden und Antiquariaten zu finden ist. Die Ur-Bücherstadt liegt in Wales, das Dorf Hay-on-Wye. Zum dortigen Literaturfestival reisen jährlich über 80.000 Büchernarren aus der ganzen Welt an. Die sicherlich unbekannteste Bücherstadt, von Ilja Trojanow nun endlich der literarisch interessierten Öffentlichkeit präsentiert, ist jedoch - man höre und staune: Kalkutta, jene viereinhalb Millionen Einwohner beherbergende Hauptstadt des indischen Bundesstaates Westbengalen, die seit 2001 offiziell den Namen Kolkata trägt.

Aufgrund seiner Bevölkerungsdichte, doppelt so hoch wie die New Yorks, ist nachvollziehbar, dass selbst Platz für Bücher in Kalkutta Mangelware ist. In College Street, einem Viertel von gerade einmal zwei Quadratkilometern, finden sie Trojanow und die Fotografin Bohnhof daher als architektonisches Element. "Von den Bürgersteigen zu den Durchgängen, von Türen und Treppen bis hinauf zu vollgestopften Dachgeschossen stapeln sich Bücher zu Fassaden, Ecken und Erkern."

Die Bücher, kleine, vielfarbige Wolkenkratzer, wachsen in College Street in die Höhe. Regale sind Luxus. Aneinander reihen sich bloß die zahlreichen Läden in denen ein Mensch und ein Ventilator Platz finden. In diesen Ein-Mann-Boxen, erhält man, so der Autor, tatsächlich innerhalb kürzester Zeit den Titel, nach dem man sucht. An die hundert Verlage sind in der College Street und ihren Seitenstraßen ansässig, etwa zehntausend Buchverkaufsstände und Läden (der älteste 150 Jahre alt), dazu Papierschneider und Drucker.

Alles wird in College Street verlegt und verkauft: Kinderbücher, Romane, Schultexte, Zeitschriften, Lernhilfen, Wissenschaftliches, Raubdrucke, Weltliteratur in Begali, Hindi und Urdu. Aber auch Englisch: der englischsprachige Buchmarkt Indiens ist nach jenem der USA weltweit der zweitgrößte.

Trojanow beschreibt - bei aller Erfahrung als Weltenbummler - die Atmosphäre von College Street mit großer Faszination. Er garniert seinen Text mit kleinen Porträts von Bewohnern sowie historischen und soziologischen Anmerkungen. Man kommt nicht umhin, nach Lektüre und Betrachten der Fotografien dieses kleinen bunten und gefühlvoll informativen Buches anzunehmen, dass immer noch die Bücher, auch über den beschriebenen Ort hinaus, Wissen, Bildung, ja, einen Wert verkörpern. Sie sind auf dem täglichen Markt von College Street nicht gefragt als Luxuswaren, sondern als Lebensmittel.

Besprochen von Carsten Hueck

Ilija Trojanow und Anja Bohnhof: Stadt der Bücher
LangenMüller Verlag, München 2012
127 Seiten, 14,99 Euro
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