Bayern, der fremde Volksstamm

10.05.2010
In seinem Sachbuch beschreibt Ilija Trojanow die Reise des Afrikaforschers Richard F. Burton ins bayerische Oberammergau. Der Reiz des Buches liegt in seiner Perspektive: Burton schaut auf die Oberbayern wie auf einen fremden Stamm.
Schon vor mehr als 100 Jahren zog es scharenweise ausländische Touristen zu dem Passionsspektakel in das Dorf am Alpenrand. So auch den Forscher und Afrikareisenden Richard F. Burton, der hierzulande einer größeren Leserschaft durch Ilija Trojanows Roman "Der Weltensammler" bekannt wurde. Burton, der die Quellen des Nils erforschte, sich, als Moslem verkleidet, unter die Gläubigen in Mekka mischte und mehr als 30 Sprachen beherrschte, reiste 1880 nach Oberammergau. Er folgte damit dem Wunsch seiner Ehefrau, einer frommen Katholikin. Seine Eindrücke legte er in einer Art Reportage nieder, die Trojanow wiederentdeckt und mit Kommentaren und Beobachtungen von heute versehen hat.

Der Reiz des Buches liegt in seiner Perspektive. Burton, der mit allen Wassern gewaschene Globetrotter, schaut auf die Oberbayern wie auf einen fremden Stamm. Ob er sich über die Kopfkissen in den Gasthäusern beschwert (wie "Vanillepudding"), die Statur der "hinterwäldlerischen" Einheimischen ("untersetzt und schwielhändig") oder die Landschaft, in der ihm das Erhabene fehlt, man merkt ihm die Vorurteile des Anthropologen aus dem 19. Jahrhundert an, der zwar weit herumgekommen ist, aber letztlich alles Fremde durch die koloniale Brille sieht.

Wortgewaltig stänkert er sich durch die Reise von München nach Oberammergau, nicht einmal das Bier findet Gnade, bis er zum eigentlichen Kern des Berichts vorstößt, den Festspielen selber. Durchaus fasziniert zeigt er sich davon, dass das gesamte Dorf sich in eine Bühne verwandelt, dass mehr als die Hälfte der Bewohner mitspielt und man sich im Wirtshaus unversehens neben Kaiphas oder Herodes wieder findet.

Wie ein Theaterkritiker gibt er präzise das achtstündige Geschehen auf der Bühne wieder, lobt huldvoll die Leistung einzelner Schauspieler (Judas Reue ruft sogar Tränen hervor), beschreibt pointiert eine Fülle von Szenen, macht Kürzungsvorschläge und spart nicht mit eigenen Regieeinfällen: Eva, zwar ziemlich hübsch in ihrem Fellgewand, habe zu viele Kinder, eines an der Brust und eines auf den Knien reichten aus und Jesus sähe auf dem Weg zum Kalvarienberg einfach zu gesund aus.

Naturgemäß passt dem Orient-Kenner vieles nicht, das Abendmahl etwa, das nicht an einem bayerischen Tisch mit Stühlen stattgefunden haben könne. Überhaupt bemängelt er die fehlende Treue zum historischen Vorbild, tadelnd vermisst er Fauna und Flora des Orients im Bühnenbild und gerne streut er seine Bildungsschätze aus.

Gerade der beckmesserische Gestus, der strenge Ton liest sich überaus schnurrig und skurril, was diesen Bericht dann doch weit über das historische Dokument hinaushebt. Ohne ihr ins Wort zu fallen, kommentiert Trojanow diese hitzige Suada wohldosiert, versieht sie sparsam mit historischen Erläuterungen, auch mit seinen eigenen Oberammergau-Impressionen.

Was man nicht gedacht hätte: am Ende ist Burton, der abgebrühte Connaisseur, der fast alles besser weiß und nur der Wissenschaft glaubt, diesem Amateurtheater doch erlegen. Christus am Kreuz: die "Magie" dieses Augenblicks wird er "bis zum letzten Atemzug nicht vergessen".

Besprochen von Edelgard Abenstein

Ilija Trojanow: Oberammergau. Richard Burton zu Besuch bei den Passionsspielen.
Aus dem Englischen von Susann Urban
Arche-Verlag, Zürich-Hamburg 2010
272 Seiten, 22 Euro