Der blinde Weltentdecker

04.10.2010
Im 19. Jahrhundert erfinden die Engländer das Reisen. Privatleute erkunden die Welt, um sich zu vergnügen oder zu bilden. Einer der größten Reisenden des 19. Jahrhunderts, der etwa 400.000 Kilometer zurücklegte und nahezu alle Kontinente betrat, war James Holman. Doch er sah die Welt nicht, er fühlte, roch und hörte sie: James Holman war blind.
James Holman, 1786 geboren, Offizier der Royal Navy, erkrankt mit 25 Jahren vermutlich an Rheuma und einem Augenleiden, quittiert den Dienst und erblindet bald. Doch statt im Wohnheim der Marine-Invaliden in gepflegter Langeweile zu verharren, beginnt er in Edinburgh Literatur und Medizin zu studieren. Ärzte raten ihm zu einer Reise ans Mittelmeer. Sie lösen damit eine Reiselust aus, die bis an sein Lebensende nicht mehr aufhört.

Vier große, mehrjährige Reisen unternimmt Holman, dazu zahlreiche kürzere: Die großen führen ihn ab 1819 zwei Jahre durch Frankreich, Italien, die Schweiz, Deutschland und die Niederlande, dann ab 1822 durch Russland und Sibirien und schließlich ab 1827 nach Afrika, Südamerika, Asien und Ozeanien. Zuletzt bereist er das Mittelmeer und den Nahen Osten.

Holman reist per Kutsche und Schiff, auf dem Rücken von Pferden oder anderen Reittieren, zu Fuß oder in einer Sänfte, je nachdem, wo er sich gerade herumtreibt. Er besteigt den Vesuv und den Tafelberg bei Kapstadt – wo alle außer ihm vom Schwindel übermannt werden. Er übernimmt nach einer Havarie das verwaiste Steuer an Bord eines Schiffes und befolgt exakt die Kommandos des Kapitäns, er besucht russische Hochzeiten und sibirische Gefängnisse, verhandelt mit afrikanischen Häuptlingen in Sierra Leone, sieht Sklavenmärkte auf Sansibar und jagt erfolgreich Elefanten auf Sri Lanka: "Ich kletterte auf den Kadaver und tanzte triumphierend darauf", notiert er jubelnd.

Holman reist allein, heuert sich vor Ort Unterstützung an, trifft Einheimische und andere Engländer, pflegt seine Teestunde und meistert aufkommende Schwierigkeiten mit einer Mischung aus Charme, Optimismus und Selbstdisziplin. Wichtig sind ein paar Regeln: Münzen statt Geldscheinen und sorgfältiges Packen, damit jeder Gegenstand an seinem festen Platz ist.

Unterwegs macht Holman Notizen. Mit dem Noctographen, einem für die Armee entwickelten Nachschreibegerät, für das man weder Tinte noch Feder braucht. Wieder daheim werden seine Reiserlebnisse als Bücher veröffentlicht. Sie sind sehr erfolgreich, zum einen wohl, weil ihr Verfasser blind ist, zum anderen, und das erscheint paradox, weil sie sehr anschaulich sind.

Dem Schriftsteller Ilja Trojanow und der Übersetzerin und Lektorin Susann Urban verdanken wir, dass Holmans Reiserlebnisse nun in einer Auswahl auf Deutsch zu lesen sind. Trojanow steuert eine Einleitung bei, dazu werden die Texte kommentiert. Die sachlichen Anmerkungen sind hilfreich, doch die anderen Kommentare oft ärgerlich. Mal sind es Plattitüden, mal kommentieren sie den Text aus heutiger, kultur- und vorurteilskritischer Sicht und zerstören so seine Authentizität.

Für die Originaltexte gilt, was ein anonymer Rezensent 1822 schrieb. Er rühmte Holmans erstes Buch als "Paradebeispiel dafür, wie viel ein wacher und tatkräftiger Geist erreichen kann."

Besprochen von Günther Wessel

Ilija Trojanow, Susanne Urban (Hrsg.): Fühlend sehe ich die Welt.- Die Aufzeichnungen des blinden Weltreisenden James Holman
Aus dem Englischen von Susanne Urban
Malik Verlag München 2010
340 Seiten, gebunden, 22,95 Euro