Dresden-Buch von Durs Grünbein

Eine Frau und ihre Stadt vor der Katastrophe

06:28 Minuten
Eine junge Frau hat einen Knaben an der Hand und schiebt einen Kinderwagen an der Elbe in Dresden im Mai 1945.
Szene vom Mai 1945 an der Elbe in Dresden: Eine junge Frau mit Kind und Kinderwagen. Sie könnte Dora W. aus Durs Grünbeins "Komet" sein. © picture-alliance / akg-images / akg-images
Von Ursula März · 27.11.2023
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In "Der Komet" erzählt Durs Grünbein das Leben seiner schlesischen Großmutter. Deren Kampf um ein geordnetes Kleinbürgerleben im Dresden unter der Naziherrschaft sei ein meisterhaft und "glänzend" gestaltetes Einzelschicksal, meint unsere Kritikerin.
So verschieden Alexander Kluges Sammlung „Lebensläufe“ und Robert Seethalers Erfolgsroman „Ein ganzes Leben“ in ästhetischer Hinsicht auch sein mögen, sie treffen sich in einem Punkt: Sie graben aus dem Schutt der großen historischen Ereignisse die Einzelschicksale von Menschen aus, die gemeinhin als kleine Leute bezeichnet werden. Auch „Der Komet“, das neue Buch von Durs Grünbein, verdankt sich dieser humanen Idee.

Willenskraft, Fleiß und praktischer Lebensverstand

Es handelt von Dora W., einer 1920 geborenen Frau, die ärmlichsten Bedingungen in Schlesien entstammt und eine Kindheit ohne Liebe verbringt. Im Alter von 15 Jahren muss sie auf eigenen Beinen stehen. Sie arbeitet in einer Gärtnerei und begegnet dort dem zehn Jahre älteren Fleischergesellen Oskar: ein schweigsamer, dafür in seiner Entschlossenheit und charakterlichen Stärke ihr ebenbürtiger Mann, von dem sie sofort weiß, dass er der Richtige ist.
Sie folgt ihm nach Dresden und erfährt die Großstadt als den zweiten großen Glücksfall ihres Lebens. Als gerade 16-Jährige wird sie zum ersten Mal Mutter. Mit Willenskraft, Fleiß und praktischem Lebensverstand erkämpft sie für sich und ihre Familie den Aufstieg in ein geordnetes Kleinbürgerleben.
Den anschwellenden Nationalsozialismus verfolgt Dora W. mit Argwohn, die Judenverfolgung stößt sie ab. Sie spürt den immer bedrohlicheren Druck der Diktatur und die staatliche Durchorganisierung, die bis in die Kapillaren des privaten Lebens reicht. Und doch fehlt ihr, wie den meisten, die Vorstellungskraft, dass auch ihr Leben von der Katastrophe der Geschichte fortgerissen werden wird. Der Zweite Weltkrieg bricht aus, Oskar kommt an die Ostfront des Russlandfeldzugs.

Weder Roman noch Autofiktion - ein Bericht

Auf eine Gattungsbezeichnung des Buches haben der Autor und sein Verlag wohlweislich verzichtet. Roman wäre nicht ganz zutreffend, Autofiktion noch weniger. Zwar handelt es sich bei Dora W. offenkundig um die Großmutter von Durs Grünbein, von der ersten Person Singular macht er jedoch sparsam Gebrauch, von der Beschreibung familiärer Szenen noch weniger. Über viele Seiten hin verschwindet er immer wieder in der Kulisse und überlässt die Bühne seiner Protagonistin – und der Stadt Dresden, in der Durs Grünbein aufwuchs und der er spürbar verbunden ist.
Mit unaufdringlicher, fast unmerklicher Meisterschaft legt er um das biografische Porträt der Dora W. ein Porträt der Barockstadt an der Elbe zwischen den Jahren 1933 und 1945. Die Detailkenntnisse aus Technik und Wirtschaft, urbaner Soziologie und Architektur, Militärkunde und Alltagskultur fügen sich so organisch in den Text, dass man beim Lesen geneigt ist, die enorme historische Rechercheleistung zu vergessen, der sich dieses Wissen verdankt.

Der Untergang Dresdens im Feuersturm

Ebenso leicht ließe sich übersehen, dass ein literarischer Hybrid aus sachlichem, durchweg unsentimentalem, ja nahezu objektivierend verfasstem Bericht und persönlicher Hommage an eine Frau nicht oft so gelingt wie hier. Nahtlos gehen Analyse und Erzählung ineinander über.
Ihr Zielpunkt ist der Februar 1945, der Untergang Dresdens in den Nächten apokalyptischer Bombenangriffe. So eindrücklich Durs Grünbein den Feuersturm im letzten Kapitel ausmalt, so wenig erliegt er der Gefahr einer politischen Schuldumkehr des Leidens der deutschen Bevölkerung.
„Der Komet“ ist ein glänzendes Beispiel für das, was Literatur vermag: Dem Einzelschicksal jene Bedeutung und Größe zurückzuerstatten, die es in der Maschinerie der historischen Ereignisse verlor.

Durs Grünbein: „Der Komet“
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023
282 Seiten, 25 Euro

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