"Deutsche Pornographie in der Aufklärung"

Sex war gut fürs Denken

Buchcover "Deutsche Pornographie in der Aufklärung" und "Das überraschte Liebespaar", handkolorierter Kupferstich von J.A. Ramberg aus dem Jahr 1799 (Ausschnitt)
Buchcover "Deutsche Pornographie in der Aufklärung" und "Das überraschte Liebespaar", handkolorierter Kupferstich von J.A. Ramberg aus dem Jahr 1799 (Ausschnitt) © picture alliance / image Broker / Wallstein Verlag / Montage: Deutschlandradio
Von Eike Gebhardt · 22.11.2018
Wie schrieben und rezipierten Deutsche in der Aufklärung Pornos? Das haben Germanisten und Historiker in einem dicken Sammelband untersucht: Die "galante Literatur" war um 1800 in adligen und bildungsbürgerlichen Kreisen ein hochpopuläres Genre.
Deutsche Klassik als Inbegriff des Erhabenen – so haben wir es seit Schulzeiten verinnerlicht. Schlegels "Lucinde" galt als momentane Verirrung, Goethes kleine Schweinigeleien als verzeihlicher jugendlicher Überschwang in einer Zeit, in der die Aufklärung an der Verbesserung des Menschengeschlechts arbeitete, und das hieß: an Kopf und Herz. Unter die Gürtellinie reichte dieser Ehrgeiz nicht.
Das sittenlose Frankreich schickte mitunter seinen libertären Schmuddelkram in deutsche Lande, von heimischen Pendants zur dortigen "Denkenden Wollust" hingegen wollte unsere Kulturgeschichte nichts wissen. Und das wohl nicht nur aus Sorge wegen der jugend- und tugendgefährdenden sexuellen Inhalte. Denn hinter jener heuchlerischen Sorge entlarvte die Aufklärung handfeste Interessen – und diese Diagnose roch nach Subversion. (In diesem Jubiläumsjahr mehrerer Revolutionen beklagen zahllose Publikationen, dass die deutschen Freiheitsbewegungen von weithin konservativen Historikern unterbelichtet wurden.)

Sex als exemplarische Arena

Die Kirche mit ihrer Morallehre legitimierte Abhängigkeiten ("jedermann sei untertan der Obrigkeit ..."), die fast zwangsläufig auch genutzt wurden. Sex war die exemplarische Arena, in der die Aufklärung den Machtmissbrauch mit missionarischem Furor höchst unterhaltsam durchspielen konnte. "Das Enthüllen von Körpern und die Enthüllung von politischen Skandalen … hatten ein ähnliches Erregungspotential und verstärkten sich wechselseitig", schreibt ein Historiker in dem Band.
Dass dergestalt auch in Deutschland "Sex … gut fürs Denken" war bzw. wirkte (so Robert Darnton, der Klassiker des Themas), belegen viele der Beiträge – sogar Begriffe wie "selbstreflexive Texte" tauchen auf. Die Einleitung des Germanisten Dirk Sangmeister – mit über 200 Seiten fast eine eigene Monographie zum Thema – wird ergänzt und durchexerziert von Fallstudien und historischen Vignetten anderer Autoren mit reichlich plastischen, zum Teil auch visuellen Beispielen (zum Beispiel Bühnenbilder aus der Zeit).
Das Wort Pornografie gab es noch nicht, man sprach von galanter Literatur oder Sotadika (nach dem antiken thrakischen Dichter Sotades, der offenbar keine sprachlichen Feigenblätter schätzte). Obwohl es keine trennscharfen Begriffe gebe, unterscheidet Sangmeister zwischen erotischer Literatur ("vor allem den Kopf anregende Texte über die Liebe") und pornografischer ("vor allem den Körper erregende Texte über das Sexualleben"). Überzeugend ist das nicht, wenn "Sex doch gut fürs Denken" ist – er selber ist ja angetreten, "das fromme Wunschdenken altfränkischer verzopfter Germanisten" zu korrigieren, dass es die literarische Franzosenseuche hierzulande nie gegeben habe.

Raffinierte Täuschung der Zensoren

Das über 700-seitige Buch strotzt von Beispielen, die solches Wunschdenken der Lächerlichkeit preisgeben, und die detaillierten Studien über die Verbreitungswege in der unübersichtlichen Vielstaaterei Deutschlands, die raffinierten Täuschungen gegenüber den Zensoren (schon damals war Zensur die beste Reklame), zeichnen das Tableau eines vor allem – aber nicht nur – in adligen und bildungsbürgerlichen Kreisen hochpopulären Genres.
"Alle Leute, die man heute noch als Erotica-Sammler der Zeit um 1800 namhaft machen kann, standen in der sozialen Hierarchie ihrer Zeit weit oben." In mancher Hinsicht war man damals weiter als die offizielle Leitkultur, zum Beispiel in der oft selbstverständlichen Erwartung weiblicher Befriedigung, und häufig traten Frauen eher als Mitspielerinnen denn als Objekte männlicher Begierde auf – womöglich noch so ein Stolperstein für die fast ausschließlich männliche Geschichtsschreibung.
So bietet dieser Band oft selber lustvoll und prickelnd eine Art nachgeholter Aufklärung: "Denkende Wollust" eben.

Dirk Sangmeister, Martin Mulsow (Hg.): Deutsche Pornographie in der Aufklärung
Wallstein Verlag, Göttingen 2018
753 Seiten, 39,90 Euro

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