Deutsch-türkisches in der Popmusik

Wie Migrantenkinder das Jahrzehnt bestimmten

25:01 Minuten
Porträt der Rapperin Ebru Dügzün alias Ebow, 2019.
Ebow brachte mit "Punani Power" feministische Diskurse in den deutschen Rap. © picture alliance/APA/Helmut Fohringer
Cem Kaya im Gespräch mit Shanli Anwar · 19.12.2019
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Ein Jahrzehnt geht zu Ende. Für die deutsche Pop-Kultur war es auch ein Jahrzehnt, in dem das deutsch-türkische Verhältnis besonders wichtig war. Besonders in der Musik haben türkischstämmige Künstler viel bewirkt.
Im Jahr 2010 war Istanbul noch Kulturhauptstadt Europas, aber die diplomatischen Verhältnisse zwischen Deutschland und der Türkei verschlechterten sich. Durch die Selbstenttarnung des NSU wurde der Glauben an deutsche Institutionen erschüttert. In der zweiten Hälfte des Jahrzehnts sorgte der Wandel des politischen Klimas unter Präsident Erdogan zudem für einen großen Brain Drain: Das deutsche Kulturleben profitiert seither von massiven Abwanderung türkischer Kunst- und Kulturschaffender.
Aus der Sicht der türkisch-deutschen Community waren die Zehner-Jahre eine Zeit des Zurückblickens und der Neu-Entdeckungen, sagt der Filmemacher Cem Kaya. Im Jahr 2011 feierte man den 50. Jahrestag des Gastarbeiterabkommens, dabei hat man auf die Kulturgeschichte der Immigranten aufgearbeitet und das Gedächtnis aufgefrischt, gar vieles wiederentdeckt.

Pionierarbeit für Gastarbeitermusik

In der Musik ist dabei das Album "Songs of Gastarbeiter" herausgekommen, der 2013 bei Trikont erschien, eine Kompilation über die Musik der türkischen Einwanderer wie Bülent Kullukcu und Imran Ayata. "Echte Pionierarbeit", sagt Cem Kaya. Man habe dabei auch vergessene Künstler wie Ozan Ata Canani aus der Versenkung geholt.
Die Musikszene in Deutschland hat sich im Vergleich zur Türkei anders entwickelt. Da spielen viele soziale und politische Veränderungen hinein wie der Anwerbestopp 1973, als dann für viele Familien klar wurde, sie gehen nicht mehr zurück. Man hat nun in ein Leben in Deutschland investiert und brauchte auch musikalische Dienstleistungen wie zum Beispiel Hochzeitsbands. Wiederentdeckt wurde die Band Grup Dogus aus München, neu aufgelegt von Ironhand Records aus Duisburg.
Nach dem Militärputsch 1980 in der Türkei kamen viele politische Flüchtlinge nach Deutschland kamen, darunter viele Kurden. Dadurch haben sich eine kurdische und eine alewitische Musikszene etabliert. In den 90er-Jahren nach dem Mauerfall herrschte eine fremdenfeindliche Stimmung in Deutschland. Nach den Anschlägen von Mölln, Solingen, Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen gründeten junge Migranten Hip-Hop-Gruppen als Reaktion auf den Hass, der ihnen entgegengebracht wurde. Die Grundsteine deutschen Hip-Hops wurden von Migranten gelegt. Der erste deutsche Rap-Song war "Ahmet Gündüz" von Fresh Familee.
Diese musikalische Reise wurde in den Zehner-Jahren von Murat Güngör und Hannes Loh erzählt. Sie hatten Bereits 2002 "Fear of a Kanak Planet: Hip-Hop zwischen Weltkultur und Nazi Rap" veröffentlicht, erschienen in Hannibal Verlag, es folgten weitere Veröffentlichungen auch von anderen Autoren: "35 Jahre Hip-Hop in Deutschland" von Sascha Verlan und Hannes Loh oder "Deutscher Gangsta Rap" von Martin Seliger und Marc Dietrich. Güngör und Loh haben eine Vortragsreihe: "Vom Gastarbeiter zum Gangsterapper".

Jahrzehnt der Migrantenkinder

"Man kann ruhig behaupten, dass die 2010er-Jahre auf jeden Fall das Jahrzehnt des von Migrantenkindern und -enkeln beherrschten deutschen Hip-Hops waren", sagt Kaya. Am Ende des Jahrzehnts werden die Charts dominiert von Rappern wie Mero, Eno, Xatar, Ufo361 und Summer Cem. Durch den deutsch-türkischen Hip-Hop wurde auch die deutsche Sprache verändert. Haftbefehl gilt als Pionier des "munteren Sprachmixes".
Es gibt einen regen Austausch zwischen den Musikszenen der Türkei und Deutschlands. Mero oder Ufo361 werden auch in der Türkei gehört. "Es gibt Leute in der Türkei, die können die deutschen Texte auswendig", sagt Kaya. Ufo und Ezhel, der erfolgreichste Rapper der Türkei, haben gerade frisch kollaboriert. Darüber hinaus war das Jahrzehnt geprägt von starken Rapperinnen wie Ebow, die mit "Punani Power" feministische Diskurse jenseits des Gangster Rap angestoßen haben oder auch "Kanak 4 Life".
Dann gibt es ein Anadolu Rock Revival. Anadolu Rock beziehungsweise. Anatolian Rock war in den 60er- und 70er-Jahren ein starkes Genre in der türkischen Rock- und Popmusik. Künstler und Musikgruppen haben zu jener Zeit traditionelle anatolische Stücke neu interpretiert. Es gab in diesem Jahrzehnt ein internationales Anadolu Rock Revival mit vielen Re-Releases von alten Platten, Sebastian Reier aka DJ Booty Karell vom Goldenen Pudel oder "Global Pop First Wave" von Holger Lund, Finders Keepers, Sublime Frequencies haben diese Musik wieder in Erinnerung gerufen. Stars wie Selda Bagcan sind in Europa getourt und haben eine internationale Fan Gemeinde erschlossen. Und es formierten sich neue Gruppen wie Derya Yildirim und Grup Simsek.

Deutschland profitiert vom türkischen Brain Drain

Durch den großen Brain Drain aus der Türkei haben junge gebildete Menschen aus der Türkei ihre musikalische Kultur nach Deutschland mitgebracht. Türkische Acts wie Jakuzi, Büyük Ev Ablukada oder Kim ki o gingen in Deutschland auf Tour, viele Künstlerinnen und Künstler zogen ganz nach Deutschland.
Ein Beispiel ist Gözen Atila, eine türkische Künstlerin, eine feste Größe im Istanbuler Kulturleben, die in Berlin lebt. Sie hat ein Projekt namens Anadol, das eine Art Lo-Fi-Synthie-Pop macht. Ihre beiden Platten "Hatiralar" (2017 ) und "Uzun Havalar" (2019) seien "unglaublich gut besprochen in Indie-Kreisen von Istanbul bis Tokyo" worden und waren in den iTunes Indie-Charts unter den Top 50.
Ihr Anadol-Projekt tritt in die Fußstapfen einsamer Synthie-Experimentatoren wie Bruce Haack oder The Space Lady, die kindliche Neugier für elektronische Klänge und das Ausloten der Grenzen minimaler Ausrüstung. Auf Uzun Havalar übersetzt sie ihren experimentellen Hintergrund in diese schwebenden Volksballaden.
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