"China hat den Kommunismus klammheimlich abgeschafft"

Moderation: Liane von Billerbeck · 06.04.2006
Der Politikwissenschaftler Eberhard Sandschneider hat vor einer einseitigen Wahrnehmung Chinas als wirtschaftliche Macht gewarnt. "Wenn wir uns nur davon blenden lassen, dass China neun Prozent Wirtschaftswachstum hat, sehen wir nur ein winziges Segment dieses Landes", sagte Sagenschneider. Man müsse auch sehen, "dass 47 Prozent, also fast die Hälfte der chinesischen Bevölkerung, von weniger als zwei US-Dollar am Tag lebt".
Liane von Billerbeck: Er war das Ideal einer klassenlosen Gesellschaft, in der die sozialen Unterschiede zwischen den Menschen aufgehoben sind und das erwirtschaftete Sozialprodukt allen gleichermaßen gehört - der Kommunismus. Nach Karl Marx' "Kommunistischem Manifest", Sie erinnern sich, ein Gespenst geht um in Europa, gehörte dazu die Abschaffung des Privateigentums und die Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Nein, das soll jetzt hier keine Marxismuslehrstunde werden. Aber bei einem Schwerpunkt China, den wir heute im Radiofeuilleton setzen, wollten wir schon wissen, wenn wir uns das moderne China ansehen, was ist da eigentlich noch kommunistisch an China. Darüber spreche ich jetzt mit Professor Eberhard Sandschneider. Er ist jetzt hier im Studio. Guten Tag, Herr Sandschneider.

Eberhard Sandschneider: Schönen guten Tag.

Von Billerbeck: Sie haben an der Berliner FU einen Lehrstuhl für Politik Chinas und Internationale Beziehungen inne, sind zudem Direktor des Otto-Wolff-Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, haben über Transformationsprozess geforscht, sprechen Chinesisch und kennen das Land. In Süddeutschland könnte man die Länder mit den drei Ks nennen - Kuba, Korea und China - die drei Länder, die als kommunistisch gelten. Wir nennen es hier China. Was ist denn an China noch kommunistisch?

Sandschneider: Eigentlich fast nichts mehr. Und wer heute das moderne China verstehen will, der tut ein Stück weit auch gut daran, zu vergessen, was wir in den Geschichtsstunden gelernt haben, wie Sie es gerade beschrieben haben, was der traditionelle, wenn auch sehr stark europäisch geprägte Kommunismus ist. Auch diese drei Ks zeigen einen wesentlichen Unterschied mit Blick auf China. China ist das wirklich einzige wirtschaftlich erfolgreiche, offiziell kommunistische Land. Das macht einen wesentlichen Unterschied. Der Kommunismus 1989 in Europa und in vielen anderen Teilen der Welt, ist an seinem Unvermögen gescheitert, Wirtschaft zu organisieren. In China ist der Kommunismus klammheimlich, schleichend, fast unbemerkt abgeschafft worden, weil er fähig war, Wirtschaft zu organisieren. Das Einzige was bleibt, ist der Anspruch der Kommunistischen Partei, dieses Land zu regieren.

Von Billerbeck: Die Vorstellungen von Kommunismus hatten ja auch immer etwas mit Gleichmacherei zu tun. Nun sind aber die Widersprüche und Gegensätze im modernen China ja kaum zu übersehen. Die sind so groß, dass man von Gleichmacherei eigentlich überhaupt nicht mehr sprechen kann. Wie passt da das Wort Kommunismus noch dazu?

Sandschneider: Auch nicht mehr. Aber was Sie ansprechen, ist ganz wichtig zu sehen in China. Man ist aus westlicher Perspektive schnell versucht, nur die riesigen Wachstumsraten, die Glitzerfassaden, die vollen Straßen und die Moderne, die in Shanghai und Peking einzieht, zu sehen. Das ist sicherlich richtig. Das ist ein Teil von China. Man muss auch die andere Seite sehen, das arme China, das völlig zerrissene China, das mit Gleichmacherei gar nichts mehr zutun hat. Wenn wir uns nur davon blenden lassen, dass China neun Prozent Wirtschaftswachstum hat, sehen wir nur ein winziges Segment dieses Landes. Man muss auch sehen, dass 47 Prozent, also fast die Hälfte der chinesischen Bevölkerung von weniger als zwei US-Dollar am Tag lebt. Das sind die Spannungsverhältnisse, die dieses erfolgreiche kommunistische Land aushalten muss.

Von Billerbeck: Nun ist es ein Riesenreich, China, eine Milliarde Menschen. Wie kann man denn so ein Riesenreich regieren, und unter welcher Überschrift regiert man das dann eigentlich?

Sandschneider: Das ist glaube ich das Geheimnis, warum das Land immer noch kommunistisch ist und warum die Kommunistische Partei immer noch an ihrem Monopol festhält. Weil sie sagt, wir sind diejenigen, die die politischen Stabilitätsbedingungen garantieren, damit dieses Land funktionieren kann. Und man tut es mit Kontrolle, mit einer Parteiorganisation, die im Wesentlichen darauf ausgerichtet ist, Staat, Militär und politische Führung so zu kontrollieren, dass die Durchsetzung von Normen, von Rechtssystemen, von Gesetzen überhaupt möglich wird.

Von Billerbeck: Wer hat denn aber in China eigentlich noch die Macht? Wer sind die Entscheider? Wenn man mit Leuten spricht, die in China wirtschaftlich tätig sind, dann sprechen sie oft davon, dass gerade die Entscheidungsprozesse für Ausländer oft undurchsichtig sind.

Sandschneider: Das ist völlig richtig. Und auf diese Frage kann man eigentlich auch gar keine pauschale Antwort geben. Eine Möglichkeit zu antworten heißt, die Macht in China liegt letztendlich in den Händen von vier oder fünf großen Familien, die wir von außen gar nicht nachvollziehen können, weil die Familiennamen nicht identisch sind, so komisch das für uns klingen mag. Aber vier oder fünf große Familien kontrollieren die großen Firmen, die wesentlichen Schaltstellen in der Partei. Die haben Söhne, Neffen oder Enkel im Militär und können insofern bestimmen, was China tut. Letztendlich, etwas allgemeiner formuliert, liegt die Macht natürlich schon noch bei der politischen Führung, die sich im Zweifelsfall durchsetzt. Das zum Beispiel heißt, ein westlicher Unternehmer, der seine Verhandlungen soweit abgeschlossen hat, muss sehr sorgfältig darauf achten, dass er auch den verantwortlichen Partiekader in das abschließende Abendessen mit einbindet, sonst funktioniert es nicht.

Von Billerbeck: Im Radiofeuilleton sprechen wir mit Professor Eberhard Sandschneider über das, was in China eigentlich noch kommunistisch ist. Sie haben sich ja auch mit der Transformation von Gesellschaften befasst, Herr Professor Sandschneider. Und gerade 1989 in den Gesellschaften im Umbruch in Osteuropa spielte ein Thema eine ganz große Rolle, das war die größte Forderung der Opposition, nämlich immer die Forderung nach dem Rechtsstaat. Wie ist es denn mit dem Rechtsstaat in dem Riesenreich China?

Sandschneider: Im westlichen Sinne gibt es einen solchen Rechtsstaat noch nicht, weil auch Rechtsnormen am Ende von der Partei bestimmt werden. Aber Regeln und verlässliche Regeln werden in China immer wichtiger. Das ist ein wesentlicher Bestandteil auch der Verhandlungen mit China, im Kontext etwa des WTO-Prozesses oder auch bilateraler Verhandlungen, die chinesische Führung dazu zu bringen, verlässliche Gesetze - und viele sind aus deutschen Gesetzbüchern buchstäblich abgeschrieben - nicht nur zu erlassen, sondern dann auch umzusetzen. China hat in vielen Bereichen schon eine sehr moderne Gesetzgebung, auch im Bereich der Menschenrechte beispielsweise, wenn Sie nachlesen, was in der chinesischen Verfassung steht. Das sind alles Texte, die wir aus dem Westen zum Teil sprachlich kennen und sicherlich gutheißen würden. Die Umsetzung ist das Problem. Und da geht China immer noch sehr eigene Wege.

Von Billerbeck: Das Wachstum, habe ich heute früh gelesen, in China verlangsamt sich etwas. Das ist natürlich immer noch ein Wachstum, da würden wir uns hier die Hände reiben, wenn wir das hätten. Also für unsere Verhältnisse ist es immer noch extrem. Wie wäre dieser wirtschaftliche Aufschwung in China denn vonstatten gegangen, wenn wir dort nicht eine, sondern möglicherweise mehrere, möglicherweise auch noch untereinander konkurrierende Parteien gehabt hätten. Hätte sich das China dann auch so entwickeln können, so extrem wachsen können, wie es das getan hat?

Sandschneider: Die unbefriedigende Antwort heißt, wahrscheinlich nicht. Auch europäische Gesellschaften, das dürfen wir nicht vergessen, wenn wir so etwas mit erhobenem Zeigefinger auf Asien schauen, waren keine Demokratien, als wir unseren Wachstums- und Entwicklungsprozess begonnen haben. Das gilt für das Deutschland als Kaiserreich, genauso wie für Großbritannien oder Frankreich. Wir sind erst später zu Demokratien geworden, als erfolgreiches Wirtschaftswachstum auch zu einer sozialen Pluralisierung, zur Herausbildung von Mittelschichten geführt hat, die für Demokratie beispielsweise ganz wichtig sind. Das ist ein Prozess, in dem China noch mitten drin steckt. Andere asiatische Staaten haben das schon gemacht. Südkorea hat das gemacht, Taiwan hat das gemacht. Das wird die große spannende Frage der nächsten zwei bis drei Jahrzehnte sein, ob in diesem riesigen chinesischen Festland ein ähnlicher Entwicklungsprozess einsetzt, der heißt, ökonomische Entwicklung kommt zuerst, aber dann kommt gesellschaftliche Pluralitätsbildung und am Ende eine Demokratisierungsphase.

Von Billerbeck: Kleine Seitenfrage, heißt das dann im Umkehrschluss, Demokratie ist eine Wachstumsbremse?

Sandschneider: Nein, Demokratie ist keine Wachstumsbremse. Demokratie ist eine Wachstumsfolge. Demokratische Systeme entstehen erst dann, wenn sie entsprechend ausdifferenzierte Mittelschichten haben. Das setzt Wachstum voraus. Das können Sie nicht wirklich verordnen, sie können es schon gar nicht von außen verordnen. Und das ist ein Augenblick, die Gelegenheit, auch einmal sich zurückzulehnen und zu fragen, inwieweit der eine oder andere Aspekt derzeitiger amerikanischer Außenpolitik funktionieren kann oder auch nicht.

Von Billerbeck: Sie meinen jetzt mit dem Demokratieexport?

Sandschneider: Man kann Demokratie nicht wie ein Sack Kartoffeln irgendwo hin exportieren. Wenn man Demokratie wirklich funktionierend in einem Land einrichten will, dann braucht man dafür auch im Land die notwendigen Voraussetzungen. Das hat mit Wirtschaftswachstum zutun, das hat mit demokratischen Eliten zutun. Das hat auch mit Hilfe von außen zutun, aber nur am Rande.

Von Billerbeck: Die Chinapolitik des Westens war ja bekanntlich immer sehr sprunghaft. Die ist immer an aktuellen Gegebenheiten, am Kalkül orientiert gewesen. Hat sich das geändert? Oder ist der Westen da noch immer genau so arrogant und ignorant, um es mal zugespitzt zu formulieren?

Sandschneider: Bedauerlicherweise hat es sich nicht geändert. Arrogant und ignorant gilt tatsächlich für einige Bereiche westlicher Chinapolitik. Aber wir lassen uns bei diesem riesigen Land, das eigentlich jedem etwas bietet, von der Peking-Oper bis zu modernen Gemälden, aber auch zu sehr traditioneller Kunst, über Literatur bis zu riesigen Wachstumszahlen. Was immer man in China finden will, kann man dort finden. Also kann jeder sich sein Chinabild so bauen, wie er es denn gerne hätte, was sehr dazu führt, dass es auch Fehlwahrnehmungen gibt. Wir haben vorhin die Spannungen in China, die wachsenden sozialen Spannungen angesprochen. Das ist etwas, was vielfältig in der westlichen Chinadiskussion ausgeblendet wird, weil wir buchstäblich besoffen sind von den hohen Wachstumsraten, die wir uns wünschen würden, seit Ewigkeiten nicht mehr haben. Deshalb finden wir China attraktiv. Das ist eine sehr eindimensionale Sicht, die sehr schnell auch viel mit Arroganz zutun hat und dann zu Fehlern führt, die wir im Nachhinein dann bitter büßen müssen.

Von Billerbeck: Sie beraten ja auch die Bundesregierung, was China betrifft. Was raten Sie denn? Mehr Stringenz in der Chinapolitik? Ist das überhaupt möglich?

Sandschneider: Ich glaube es ist nicht Frage von Stringenz, sondern zunächst einmal ist es die Frage, China nicht eindimensional zu sehen, weder als Gegner noch nur als Markt, sondern in der komplexen Breite dessen, was China einem zu bieten hat. Und zum Zweiten muss man sagen, wir müssen aus deutscher und europäischer Sicht sehr viel stärker daran arbeiten, generell - ich sage mal - eine Asienstrategie zu entwickeln, auch eine sehr westliche Perspektive zunächst. Aber alle wesentlichen Herausforderungen, die auf uns zu kommen, werden in Zukunft in Asien entstehen. Das hat mit Arbeitsplatzkonkurrenz zutun, das hat mit Umweltproblemen zutun, mit Energieversorgung zutun. Und alle Grundprobleme unserer Gesellschaft spiegeln sich irgendwo in Asien wieder. Jede Regierung ist gut beraten, sehr aktiv und sehr genau auf Asien zu schauen und sich die Frage zu stellen, wie gehen wir mit diesem Kontinent und seinen Ländern um.

Von Billerbeck: Ich sage nur, China, China, China, kann ich da Herrn Kiesinger noch mal zitieren.

Sandschneider: So ist das, ja.

Von Billerbeck: Im Radiofeuilleton sprachen wir mit Professor Doktor Eberhard Sandschneider, dem Leiter des Otto-Wolff-Forschungsinstitutes der Gesellschaft für Auswärtige Politik.
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