Carl-Christian Elze: „Freudenberg“

Vom Wunsch, ein Anderer zu sein

05:57 Minuten
Der Buchtitel "Freudenberg" steht in großen roten Buchstaben auf einem gescheckten, blauen Hintergrund
© Edition Azur

Carl-Christian Elze

FreudenbergEdition Azur, Berlin und Dresden 2022

176 Seiten

20,00 Euro

Von Nico Bleutge · 11.07.2022
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Fantastische Ideen und ein toter Junge: Carl-Christian Elze schickt seinen 17-jährigen Helden in die polnische Provinz. Dort wird sich sein ganzes Leben ändern - oder doch nicht?
Als seine Eltern endlich in ihrem Zimmer verschwinden, beginnt für Freudenberg der Urlaub. Er gibt den Schlüssel an der Rezeption ab und tritt nach draußen. Der Ferienort an der polnischen Ostseeküste ist voll.
Aber das stört Freudenberg nicht. Auf der Hauptstraße wird er sofort von der Menschenmasse geschluckt, die ihn wie eine Welle mitreißt. Darin nur Lachen, Grölen und Sätze in einer Sprache, die er nicht versteht. Das ist entscheidend. Kein einziges Wort zu verstehen. Für Freudenberg wie der Eingang zum Paradies. Er sieht die hellen Kurhäuser, hört einen Rummel „mit Bumsmusik und Sirenengeheul“. Und geht einfach in der Gegenwart auf.

Figur der Zwischenzustände

Carl-Christian Elze, der 1974 in Berlin geboren wurde, ist ein Dichter der Zwischenzustände. Das Auflösen von Grenzen und das Gleiten zwischen Klängen und Rhythmen haben es ihm von jeher angetan.
Doch seine Verse markieren auch, wie labil diese Zustände sind. „nichts bleibt in der schwebe auf dauer“, schreibt er in einem Gedicht. Und fährt fort: „keine figur verlässt das spielfeld / als dieselbe figur. etwas kommt ins rutschen.“

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Das liest sich fast wie eine Zusammenfassung seines ersten Romans. Denn Freudenberg, der Held des Buches, der mit seinen 17 Jahren über eine hochausgeprägte Wahrnehmungsfähigkeit verfügt, fühlt sich in seinem Leben wie festgezurrt.
Mit der Mutter lässt es sich aushalten, aber mit dem Vater passt es einfach nicht. Der Vater hat sein klar umgrenztes Weltbild, regelt die Dinge am liebsten alleine und hat auch schon entschieden, dass Freudenberg wie er selbst einen Job in der Metallverarbeitung annehmen wird.

Freudenberg will ausbrechen

Kein Wunder also, dass Freudenberg ausbrechen will aus dem engen Korsett und sich immer wieder nach Schwebezuständen sehnt. Und tatsächlich kommt etwas ins Rutschen in diesem Roman.
Freudenberg wird nicht derselbe bleiben. Beim Streifen durch die polnische Uferlandschaft entdeckt er einen toten Jungen, der offenbar von der Klippe gestürzt ist. Und der ihm verblüffend ähnlich sieht. Kurzerhand wechselt er Kleidung und Ausweise mit dem Verunglückten und versucht fortan als Marek Strzep zu leben.
Diese Konstellation hätte man wahlweise als Coming-of-age- oder als Kriminalgeschichte weitererzählen können. Aber Elze macht etwas anderes. Bald schon vermischt er die realistisch anmutende Szenerie mit surrealen Schichten. Im Wald taucht eine junge Frau auf, mit der Freudenberg eine Liaison beginnt, später begegnet man ihr jedoch in einem Fernsehfilm wieder.

Keine Flucht ohne Gewalt

Dazu gibt es sexuell aufgeladene Verschmelzungsfantasien, die an Erzählungen von Wolfgang Hilbig erinnern. Und Elze unterläuft Erwartungshaltungen. Statt den Ausbruch als große Reise in die Selbstständigkeit anzutreten, kehrt Freudenberg in sein Elternhaus zurück.
Bei aller Phantastik bleiben einige Handlungselemente in diesem Buch jedoch unmotiviert. War alles nur ein Unfall? Oder ein Traum? Auch kann man über manch stereotype Formulierung stolpern.
Trotzdem, Carl-Christian Elzes Roman entfaltet eine ganz eigene erzählerische Kraft. Klug sind hier Lücken und Sprünge in die Erzählung eingebaut.
Vor allem aber zeigt er, dass der Wunsch, ein anderer zu werden, nicht nur einen euphorischen Fluchtpunkt hat. Vielmehr kann diese Idee mit großer Gewalt verbunden sein. Einer Gewalt, die sich gegen die eigene Person richtet. Und genauso gegen andere Menschen.
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