Amelia versuchte unterdessen so zu tun, als wäre alles normal, denn genau das sollte man tun, wenn gar nichts normal ist.
Anna Burns: Amelia
© Tropen Verlag
Krasses literarisches Debüt
06:02 Minuten
Anna Burns
Aus dem Englischen von Anna-Nina Knoll
AmeliaTropen, Stuttgart 2022384 Seiten
25,00 Euro
Anna Burns sorgte mit "Der Milchmann" 2018 für Aufsehen. Nun folgt ihr vor 20 Jahren erschienener Erstling "Amelia" auf Deutsch: die beeindruckende Geschichte einer Jugend in Belfast im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts – ein fulminantes Debüt.
Was für eine Wucht. Es sind die Formulierungen, die einen sofort mitreißen und nicht mehr loslassen, auch wenn man sich das immer öfter wünschen wird, sprachliche Fangarme, mit denen schöne Metaphern gleich wieder auf den knallharten Boden des brutalsten Lebens zurückgeholt werden.
„Die Unruhen begannen an einem Donnerstag“, lautet der erste Satz. Troubles lautete der Euphemismus für den Kriegszustand, den der Irlandkonflikt in den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts hervorgebracht hat. Was aus der Ferne ausgesehen haben mag wie eine historisch unglückliche politische Konstellation, fühlte sich vor Ort an wie ein Naturzustand der grausamen Verrohung. Selten ist einem das so nah gebracht worden wie in diesem Buch.
Potenzielles Pulverfass Irland
In Europa ist der Krieg zurück, und eine seiner Sollbruchstellen, eben Irland, erweist sich in Folge des Brexits gerade wieder als das potenzielle Pulverfass, das es ist – da schleudert uns eine Stimme aus der Vergangenheit entgegen, was Literatur kann, wenn vielen die Worte wegbleiben angesichts von Aussichts-, Hoffnungs- und Hilflosigkeit.
Bereits 2001 ist Amelia von Anna Burns im Original erschienen. Inzwischen hat die Autorin für ihren Roman Der Milchmann (2018) unter einhelligem Applaus neben anderen Auszeichnungen den Man Booker Prize erhalten und in Anna-Nina Kroll eine kongeniale Übersetzerin gefunden.
Einsamkeit und Vernachlässigung
Die Entscheidung des Verlags, den 20 Jahre alten Erstling nachzuschieben, mag ökonomisches Kalkül gewesen sein, ist aber ein Glücksfall. Während Belfast in den Siebzigern im jüngsten Roman eher abstrakt den Hintergrund für eine raffiniert erzählte Geschichte abgibt, ist es im Debüt die roh gezimmerte Bühne für ein drastisches Schauspiel einer Jugend, in der eine Phalanx aus allgegenwärtigen Schüssen, Schlägen, Tritten und zerschossenen Kniescheiben, aus Erniedrigungen, toten Eltern, wahlweise toten Kindern, aus Ausgrenzung, Einsamkeit und Vernachlässigung so etwas wie einen Kampf gegen alles Menschliche vorantreibt, dessen Ziel nur die völlige Verrohung sein kann.
Zwischen alledem wächst Amelia Boyd Lovett heran und entwickelt eine Überlebensstrategie der kleinen Schritte:
Es geht auch um die Einstellung
„Willst du denn nichts über die Welt und die Menschen wissen, Amelia?“, wird sie einmal gefragt und denkt sich: „Eigentlich nicht. Was sie über die Welt und die Menschen wusste, hatte ihr bisher wenig geholfen.“ Und doch baut sich diese Amelia trotz Magersucht, Alkoholismus und eines unvermeidlichen Zusammenbruchs so etwas wie eine Perspektive auf, eine Art Traum („Dann geh doch nach Scheiß-England. Geh halt drauf. Ich geh ins Bett.“)
Am Ende, mit Freunden auf einer Insel, traut sie sich sogar, das selbst zu denken: „Ehrlich gesagt hab ich die richtige Einstellung auch noch nicht gefunden. Aber ich bin sicher, dass es um die Einstellung geht und man die richtige in Zukunft irgendwie, irgendwo herbekommen kann.“ Man wünscht es ihr, von Herzen. Ein starkes, auch ein krasses literarisches Debüt.