Buddhistische Gehmeditation

Atmen statt Drängeln auf dem Weihnachtsmarkt

05:59 Minuten
Vielen Menschen auf dem Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche.
Dicht an dicht im Glanz der Lichter: Die Gehmeditation bringt Gelassenheit ins Gedränge des Weihnachtsmarkts an der Berliner Gedächtniskirche. © imago / Sabine Gudath
Von Milena Reinecke · 18.12.2022
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Im Buddhismus spielt das Materielle meist keine große Rolle. Zur Weihnachtszeit möchte eine buddhistische Gruppe aus Berlin deshalb Achtsamkeit schenken. Dafür sucht sie Konsum-Hotspots auf – zum Beispiel mit einer Meditation auf dem Weihnachtsmarkt.
Es klingt nach Weihnachten, und von überall locken Lichter und Düfte. Wir sind auf dem Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche in Berlin. Ein intensiver Geruch von süßer Vanille zieht herüber und ist wenige Schritte später schon wieder verweht. Dann riecht es auf einmal nach heißem Alkohol, dann nach salzigem Fett. Hier gibt es vielleicht Würstchen, dort gebrannte Mandeln, da Glühwein.

Die Gruppe fließt ruhig durch das Gedränge

Zwischen all den Ständen bewegt sich eine Gruppe von Menschen, die schweigen. Ihre Aufmerksamkeit wirkt nicht angezogen von den Gerüchen, den funkelnden Geschenken und den Leuchtreklamen an den Hochhäusern. Sie starren auch nicht auf den Boden, sondern laufen wachsam, fließen gleichsam ruhig durch das Gedränge.
Sie scheinen einander nicht zu kennen und doch zusammenzugehören, sind völlig unterschiedlich alt und sehr verschieden gekleidet. Eigentlich nimmt niemand sie wahr, kein Blickkontakt, keine Irritation entsteht, aber wo die Gruppe entlanggeht, lockert sich die Menge auf, wird leiser, wirkt entspannter.

Achtsam im Advent

Die Menschen, die dafür gesorgt haben, sind dem Aufruf vom buddhistischen "Netzwerk Achtsame Wirtschaft" gefolgt, das jedes Jahr in der Vorweihnachtszeit öffentliche Gehmeditationen veranstaltet, dieses Jahr an 15 verschiedenen Orten in Europa. Kai Romhardt, Initiator der Aktion, erklärt:
"Zwischen dem Black Friday, dem großen Konsumtag, und dann dem  ersten Advent, wo dann die Zeit der Besinnung beginnt, haben wir immer die Gehmeditation unter verschiedenen Überschriften."

Unterwegs in gegensätzlichen Welten

Vor Beginn der Meditation haben sich alle Teilnehmenden am Treffpunkt in einem großen Kreis versammelt. Romhardt blickt in die Runde von etwa 25 Gesichtern und bereitet die Gruppe auf den gemeinsamen Gang vor.

Wir werden heute durch verschiedenste Lebenswelten gehen, die teilweise nur 20, 30 Meter auseinanderliegen. Wir werden den Obdachlosen begegnen, die unter der Brücke liegen, wir werden an Prachtbauten vorbeigehen, wir werden auf Wegen gehen, wo gar nichts los ist, wo uns niemand begegnet, wir werden über den Weihnachtsmarkt gehen, über die Tauentzien, direkt am Kaufhaus des Westens vorbei, also mitten rein in den Trubel, und die ganze Zeit üben wir, achtsam zu gehen, Schritt für Schritt zu gehen.

Kai Romhardt, Initiator der Gehmeditation

Dieses Jahr ist das Thema Frieden: Frieden in der Welt und Frieden in mir. Mit einer friedlichen Geisteshaltung wollen die Meditierenden das Geschenk ihrer achtsamen Gegenwart in den Weihnachtstrubel tragen, heißt es in der Ankündigung. Dabei geht es allerdings nicht darum, auf die Menschen, die gerade konsumieren, herabzublicken.

Intensivere Wahrnehmung als im Alltag

Was die Meditationsperspektive ermögliche, sei mitfühlende Verbundenheit, erklärt eine Teilnehmerin nach der Meditation:
"Ich merke, dass ich ein Teil davon bin. Ich merke halt meine Begierde, also wenn ich so Sachen sehe, zum Beispiel heiße Maronen, dann sage ich mir: Heiße Maronen, mmmh!"
Die Eindrücke und Impulse während des Gehens gerade sind ihr noch sehr präsent, viel intensiver als im Alltag. Sie erinnert sich auch an die Gesichter der Menschen um sie herum:
"Da war manchmal auch so ein getriebener Ausdruck, vielleicht ein Geschenk finden zu wollen, oder was Leckeres essen zu wollen. Manche sind gelassener, manche sind ein bisschen getriebener, unterschiedlich. So wie halt Menschen sind. Und ich bin genau ein Teil davon."
Am Ende sei das Ziel nicht, selbst wahrgenommen zu werden, obwohl das in den Jahren zuvor häufiger passiert sei als diesmal.

Zeit der Einsamkeit und Angst

Eine andere Teilnehmerin erklärt, dass die Achtsamkeit, mit der die Meditierenden durch die Stadt gehen, vielmehr ein Geschenk sei, das sie einander machen in einer Zeit, die für viele von Einsamkeit und Angst geprägt sei, Angst vor der Klimakrise zum Beispiel, und dieses Jahr besonders: vor Krieg.

Ich finde das immer ein großes Geschenk, gemeinsam gehen zu können. Das kommt ja nicht so häufig vor und in einem Außenbereich sowieso nicht so häufig. Und das kann ich mir nur wünschen und das können die anderen mir schenken, indem sie kommen und mit mir zusammengehen, das kann ich nicht einfach selbst herstellen, und darum finde ich das so kostbar.

Eine Teilnehmerin der Gehmeditation

Das sei das Besondere an Geschenken, sagt sie. Dass man sie sich nicht selbst machen kann.
"Es zeigt auch, dass man angewiesen ist auf andere. Wenn andere damit aber gut umgehen, ist es eine schöne Erfahrung, keine bedrohliche, eine bestärkende Erfahrung. Und die kann man eigentlich mit so wenig herstellen und teilen. Also dass es nicht mit Konsum verbunden ist - wir mussten nicht zusammen etwas kaufen und trinken oder etwas kaufen und essen."

"Frieden ist der Weg"

Jan, Mitglied des Netzwerks Achtsame Wirtschaft, sieht darin die Grundidee des Projekts:
„Sich gegenseitig einfach Achtsamkeit, Aufmerksamkeit zu schenken. Ich glaube, das verbindet an sich das ganze Netzwerk Achtsame Wirtschaft. Dieses Mal war das Thema wirklich ganz stark das Gehen in Frieden, wirklich der Frieden zu sein. Das Verkörpern, dass das eigentlich der Anfang ist, der erste Schritt.“
Wer den Wandel wünsche oder fordere, müsse den ersten Schritt selbst gehen. Oder in den Worten des Zen-Meisters Thich Nhat Hanh, in dessen Tradition das Netzwerk steht: Es gibt keinen Weg zum Frieden. Frieden ist der Weg.

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