Boom der Buchklubs

Zusammen liest man weniger allein

Blick in den großen Lesesaal der Deutschen Nationalbibliothek
Gemeinsam lesen verbindet - egal, ob in der Bibliothek oder digital vernetzt. © picture alliance / dpa / Sebastian Willnow
Gedanken von Marius Müller · 22.09.2023
Lesekreise boomen nicht zuletzt seit Corona. Hier diskutiert man mit verschiedenen Menschen über Literatur. Dabei kann man das respektvolle Miteinander üben, findet der Bibliothekar Marius Müller. Das könne unserem überhitzten Debattenklima nur guttun.
Zurückreichend bis in die Antike waren Lesegesellschaften oder -klubs meist nur Mitgliedern der gehobenen Gesellschaft zugänglich. Längst aber sind sie ein Phänomen der breiten Masse geworden. Durch die Möglichkeiten der digitalen Technik hat das altgediente Format des Austauschs über Bücher nun vollends einen Demokratisierungsschub erfahren. Gut so!
Während früher vor allem engagierte Buchhändler, Bibliothekarinnen oder das klassische Bildungsbürgertum Literaturklubs ins Leben riefen, sind Lesekreise mittlerweile in verschiedenen Zielgruppen präsent und in ganz unterschiedlichen Formen zu finden. 
Es gibt inzwischen sogar ein eigenes Festival für Leseklubs. Dort treffen in mehreren Städten Autorinnen auf die Mitglieder von Literaturkreisen und können so mit den Lesern in einen Austausch über ihre Bücher treten. Auch Verlage haben das marketing- und absatzrelevante Potenzial der Buchclubs schon längst erkannt und fördern diese mit speziell bereitgestelltem Diskussionsmaterial.

Gemeinsam lesen boomt

Nicht zuletzt sorgte die Coronakrise für einen Boom. Literaturkreise boten ein wirksames Mittel gegen Vereinzelung und fehlenden Austausch. So machte beispielsweise das Staatstheater Augsburg aus der Not eine Tugend und rief anstelle einer geplanten Inszenierung von Thomas Manns "Zauberberg" einen digitalen Literaturklub zum Austausch über Manns Klassiker ins Leben. Dieser erlebte einen Ansturm, der sogar die Verantwortlichen überraschte und für eine zeitweilige Überlastung der Rechner sorgte. Solche Startschwierigkeiten sind längst behoben und der Literaturkreis geht nun bereits in seine fünfte Runde.
Auch auf Instagram sind digitale Buchclubs erfolgreich – so versammelt beispielsweise der von der Kunststiftung NRW geförderte Lesezirkel Ruhrgebiet über 1.400 Abonnenten, die dem monatlichen Austausch über ein ausgesuchtes Buch folgen. Vorleser_Innen nennt sich ein weiterer Social Media Buchclub mit über 8.000 Followern.

Lesekreise als verbindendes Erlebnis

Warum aber sind Literaturklubs so beliebt, dass sie sogar Hollywood bereits als Thema entdeckt hat? Es ist das Erleben von Gemeinschaft. Die Liebe zu Büchern führt in Lesekreisen Menschen mit ganz verschiedenen Perspektiven zusammen. So saß in einem von mir geleiteten Literaturkreis ein belesener Rechtsanwalt neben einer krimiliebenden Seniorin und einer Studentin, die vor allem die feministischen Aspekte der Lektüren reizten.
In Zeiten sich ausdifferenzierender Geschmäcker und Lesemärkte bieten Lesekreise ein verbindendes Erlebnis. Neben der literarischen Inspiration und dem sanften Gruppendruck zur tatsächlichen Lektüre der ausgewählten Bücher ist es der Austausch über Literatur, der im Mittelpunkt steht. Man diskutiert über verschiedene Lesarten eines Buchs, gleicht seine Wahrnehmung von Literatur mit der anderer Menschen ab. Man versucht, andere Sichtweisen oder Kritikpunkte nachzuvollziehen. Im Kleinen übt man somit das ein, was in der Gesellschaft im Großen längst nicht mehr so gut funktioniert – das respektvolle Miteinander.
Unvergessen sind mir engagierte Diskussionen, die über die eigentliche Stunde des Literaturkreises hinaus auf dem Parkplatz der Bücherei weitergeführt wurden. Von Literaturkreisen und Leseklubs lässt sich produktives Streiten lernen. Das kann der Demokratie und unserem überhitzten Debattenklima nur guttun.
Und wenn Buchklubs auch kein Allheilmittel für gesellschaftliche Spaltung sind, so stimmt zumindest, was das Staatstheater Augsburg als Motto seines Literaturkreises auserkoren hat: „Zusammen liest man weniger allein“.

Marius Müller ist studierter Diplombibliothekar und lebt in Augsburg. Er leitet die Studienbibliothek in Dillingen an der Donau und schreibt auf seinem Blog Buch-Haltung über Literatur der Gegenwart und literarische Themen.

Bibliothekar Marius Müller sitzt im grauen Anzug  auf einem Stuhl vor schwarzen Hintergrund und blickt in die Kamera.
© Adrian Beck
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