Beate Zschäpe ist in ein Neonazi-Aussteigerprogramm aufgenommen worden. Dadurch könnte die wegen Mittäterschaft bei den NSU-Morden Verurteilte vorzeitig aus der Haft entlassen werden.
Diese Nachricht hat es nicht mehr ins Buch von Gamze Kubaşık und Semiya Şimşek geschafft. Aber beide haben eine Petition gestartet mit der Forderung, Zschäpe, die nie Reue gezeigt hat, nicht zu unterstützen und endlich mit der Täter-Opfer-Umkehr aufzuhören. Es ist ein weiterer Tiefschlag für die Familien der Getöteten.
Gamze Kubaşık und Semiya Şimşek schreiben im Vorwort von „Unser Schmerz ist unsere Kraft“:
„Unsere Geschichte ist so passiert. Und wir wissen heute, wenn wir nichts tun, kann sie wieder passieren. Auch deshalb erzählen wir sie. Wir wollen, dass sie nicht vergessen wird. Wir wollen, dass unsere Väter nicht vergessen werden. Und wir hoffen und wünschen uns, dass nie wieder eine Familie so etwas durchmachen muss. Wir hoffen dabei auch auf euch. Denn wir schaffen es nur gemeinsam. Wir dürfen nicht wegschauen, wir müssen Rassismus bekämpfen. Wir alle zusammen.“
Demütigende Verdächtigungen
Beide verloren ihre Väter durch die NSU-Morde, Semiya mit 14, Gamze mit 20 Jahren. Die Familien erlitten nicht nur den Schock des plötzlichen, brutalen Todes. Sie verloren zudem den Hauptverdiener. Semiyas Mutter wurde depressiv.
Doch das war längst nicht alles. Am Tag nach dem Mord an ihrem Vater wurde Gamze Kubaşık auf einer Dortmunder Polizeiwache verhört. Die Polizei will wissen, ob ihr Vater mit Drogen gehandelt oder selbst welche genommen hat. Sie bedrängen die junge Frau, doch sie bleibt bei ihrem bestimmten "Nein".
In diesem demütigenden Stil ging es jahrelang weiter. Die NSU-Opfer wurden von den Ermittlungsbehörden immer wieder in Zusammenhang mit kriminellen Aktivitäten gebracht, obwohl es darauf keinerlei Hinweise gab. Gamze Kubaşık verließ ein Jahr lang kaum noch das Haus, weil sie das Tuscheln auf der Straße nicht mehr ertrug. Ihre Ausbildung brach sie ab.
Schon früh wiesen die Familien der Opfer auf einen möglichen rechtsextremistischen Hintergrund hin – vergebens. Semiya Şimşek hatte für die Ermittler irgendwann nur noch Galgenhumor übrig.
„Es sind dieselben, die vom BKA in Wiesbaden. Sie waren inzwischen so oft bei uns, sie könnten Mama eigentlich beim Tischdecken helfen.“
Humor ist eine wichtige Waffe der jungen Frauen gegen die Verzweiflung. Noch wichtiger sind der familiäre Zusammenhalt und ihre Freundschaft.
Wechselbad der Gefühle
Beide Frauen setzen mit ihrer Erzählung 2006 ein, als Gamzes Vater ermordet wurde und Semiyas seit sechs Jahren tot war. Die Montage der beiden Stimmen macht die verschiedenen Stadien der Trauer deutlich und der Zermürbung durch die permanenten Verdächtigungen.
In kurzen Zwischentexten erläutert Co-Autorin Christine Werner Zusammenhänge, Hintergründe und Begriffe wie Neonazis oder Untersuchungsausschuss und weist auf andere rechtsextremistische Straftaten hin.
Die Texte der „Seelenschwestern“, wie sie sich nennen, sind im Tagebuchstil verfasst, manchmal auch als Kurznachrichten-Chat oder Protokoll von Telefonaten. So kommt man diesen sensiblen, klugen jungen Frauen nah und leidet mit bei dem Wechselbad der Gefühle aus Trauer, Wut, Verzweiflung, Angst, dem sie ausgesetzt waren. Ihre wachsenden Zweifel am deutschen Rechtsstaat lassen sich nur zu gut nachvollziehen.
Immer dann, wenn die Familien der Opfer ein kleines Fünkchen Hoffnung hatten, folgte zuverlässig der nächste Tiefschlag. Als der NSU Ende 2011 aufflog, informierte niemand die Opferfamilien. Kanzlerin Merkel versprach, alles zu tun, um die Morde aufzuklären. Doch Akten verschwanden oder wurden gesperrt, V-Leute wurden nicht verhört.
Bis heute bestehen erhebliche Zweifel, ob die beim NSU-Prozess Verurteilten nicht von deutlich mehr Hinterleuten unterstützt wurden. Und in einem der größten Strafprozesse in der Geschichte der Bundesrepublik, der fünf Jahre dauerte, wandte sich der Richter kein einziges Mal an die Opfer. Gamze Kubaşık klagt:
„Immer wieder werden wir zu Randfiguren unserer eigenen Geschichte gemacht.“
Kapitales Staatsversagen
Die Familien der NSU-Opfer haben sich bereits in vielen Interviews und Reden zu Wort gemeldet. Doch Jugendliche kennen diese Dokumente nicht unbedingt. Und auch für Erwachsene ist es erschütternd, die Erlebnisse von Gamze Kubaşık und Semiya Şimşek in dieser sehr persönlichen Form zu lesen.
Ein ungeheuer wichtiges Buch, das Schullektüre werden sollte. Denn auch diese Geschichte eines kapitalen Staatsversagens ist – leider – deutsche Geschichte.