Empörung über NSU-Urteil

Opfer-Angehörige wollen weitere Aufarbeitung

Angehörige der Opfer und Aktivisten protestieren am Tag der Urteilsverkündung im NSU-Prozess vor dem Münchner Oberlandesgericht.
Angehörige der Opfer und Aktivisten protestieren am Tag der Urteilsverkündung im NSU-Prozess vor dem Münchner Oberlandesgericht. © imago stock&people
Von Michael Watzke und Tobias Krone · 11.07.2018
Lebenslänglich für Beate Zschäpe, mit diesem Urteil ging heute der NSU-Prozess in München zu Ende – nach 437 Verhandlungstagen. Doch die Hinterbliebenen sind vom Prozess enttäuscht, manchen verschlug das Urteil glatt die Sprache. Andere äußern konkrete Forderungen.
Beate Zschäpe trägt zur Urteilsverkündung schwarz. Nur der Schal, den sie um den Hals geworfen hat, ist bunt. Die lockigen Haare trägt sie offen und schüttelt sie, bevor Richter Manfred Götzl in den Saal tritt. Als der Richter das Urteil verliest und "lebenslänglich" verkündet, verzieht Zschäpe keine Miene. Reglos sitzt sie zwischen ihren Anwälten, die Hände auf dem Schoß gefaltet. Als habe sie seit langem mit diesem Urteil gerechnet.

Die Hinterbliebenen sind enttäuscht

Vormittag an der Nymphenburger Straße, vor dem Münchner Justizzentrum. Drinnen verliest Richter Manfred Götzel sein Urteil. Draußen warten Dutzende Journalisten. Taha Kahya kommt aus dem Gebäude. Er ist Mitarbeiter der Ombudsfrau der Bundesregierung für die Hinterbliebenen des NSU-Terrors.
"Es ist ein Lacher. Mehr kann man nicht kommentieren. Es ist für die Opfer zumindest ein Schlag ins Gesicht. Besonders für diejenigen, die ihre Lieblinge verloren haben – die Mordfälle. Ich habe das Gefühl, dass sie genau das selbe Schema wiedererleben."
Taha Kahya spricht für die Hinterbliebenen, die sich heute Mittag nicht vor den Kameras und Mikrofonen der anwesenden Journalisten zeigen.
"Mit einem habe ich sprechen können. Er konnte kein Wort sagen. Er hat nur den Kopf geschüttelt und ist empört."
Einige Hinterbliebenen verstört, dass Beate Zschäpe nach ihrer Haftstrafe nicht in Sicherheitsverwahrung bleiben soll. Und auch die Urteile für die Helfer sind ihnen zu milde.

Im Gericht jubeln Sympathisanten des Angeklagten

Die größte Überraschung verkündet Richter Manfred Götzl gleich nach dem Zschäpe-Urteil: Andre Eminger, angeklagt wegen Beihilfe zum versuchten Mord, muss statt 12 Jahren nur 30 Monate hinter Gitter. Das Gericht sieht bei Eminger nur den Vorwurf der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung bestätigt. Dabei war kein Angeklagter jahrelang so dicht dran am NSU-Trio wie Eminger, der auch heute noch glühender Neonazi und heimlicher Star der rechtsextremen Szene ist.
Als Emingers Urteil fällt, jubeln und applaudieren im Publikum zehn schwarz gekleidete Besucher: Emingers Fan-Club aus Thüringen. Richter Götzl ermahnt zur Mäßigung. Doch in der ersten Prozesspause winken die Neonazis auf der Tribüne ihrem Vorbild auf der Anklagebank begeistert zu. Eminger winkt grinsend zurück. Das ist zwar verboten, aber die Sicherheitskräfte greifen nicht ein.

Draußen warten Pressevertreter

Hinterbliebenen-Anwalt Mehment Daimagüler tritt kurz danach als erster Anwalt vor die zahlreichen Pressekameras im Freien.
"Die Urteile, was die Angeklagten Wohlleben und Eminger angeht, halten wir für mild. Wir werden uns das genauer anschauen und wenn nötig und möglich Revision dagegen einlegen."
Revision angekündigt hat jetzt schon Zschäpes Pflicht-Verteidiger Wolfgang Heer. Würde diese zugelassen, dann sähen sich viele Beteiligten vor dem Bundesgerichtshof in Leipzig wieder. Dort werde man Erfolg haben, ist Heer überzeugt.
"Das so genannte Sichern der Wohnung, so der Bundesanwalt ist sicher nicht mit dem Krümmen des Zeigefingers am Abzug einer Schusswaffe gleichzusetzen. Das Urteil halten wir für grob falsch."

Tränen und Wut bei der Urteilsverkündung

Als Richter Manfred Götzl in seiner Urteilsbegründung gerade den Mordfall des jungen Internet-Cafe-Betreibers Halit Yozgat beschreibt – ertönt plötzlich ein lauter Schrei. "Ihr Mörder, ihr Mörder" ruft ein alter Mann immer und immer wieder mit tränenerstickter Stimme. Es ist Ismail Yozgat aus Kassel, der Vater von Halit. Er hatte seinen Sohn kurz nach der Tat blutüberströmt hinter dem Tresen gefunden. Halit Yozgat starb in den Armen seines Vaters. Jetzt, im Gerichtssaal 101, bricht der alte Mann in Tränen aus. Eine Minute lang wiederholt er seine Klage, bis Richter Götzl um Ruhe bittet. Sonst müsse er den Saal räumen lassen. Da verstummt Ismail Yozgats Stimme.
Gamze Kubaşık, die Tochter des in Dortmund erschossenen Mehmet Kubaşık, veröffentlicht heute nur eine schriftliche Stellungnahme. Das Urteil sei "ein erster wichtiger Schritt". Sie will weitere Aufklärung – wie viele Hinterbliebenen der NSU-Morde, und wie die Aktivisten der Initiative "Kein Schlussstrich", die vor dem Gerichtsgebäude eine Kundgebung abhalten. Einen Schlussstrich unter den Mord an ihrem Vater kann Gamze Kubaşık nicht ziehen, sagte sie schon gestern in einer Pressekonferenz.
"Weil einfach der Gedanke da ist, dass wahrscheinlich Helfer und Helfershelfer mir auf der Straße begegnen können und ich von denen nicht weiß, aber sie wissen: Ich bin die Tochter von Mehmet Kubaşık."

Das Urteil ist verkündet, doch viele Fragen bleiben

Gab es ein Netzwerk hinter dem NSU? Und was wusste der Verfassungsschutz von den Morden? Diese Fragen sehen die Aktivisten durch den Prozess nicht beantwortet. Der Hinterbliebenen-Anwalt Alexander Hoffmann streicht auf der Bühne der Kundgebung die politische Dimension heraus.
"Dieses Urteil, was wir hier gehört haben, was im Grunde genommen wieder heißt Einzeltäter – na gut, drei Einzeltäter, aber zwei sind tot – der Rest Unterstützer. Dieses Urteil in dieser politischen Situation ist nicht nur eine Katastrophe, sondern bedeutet einfach, dass wir weitermachen wie bisher. Wir müssen es alleine machen. Antifaschismus ist Handarbeit."
(Onlinefassung/mw)
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