Initiative Brand New Bundestag

Das Parlament politisch aufmischen

28:54 Minuten
Ein junge Frau mit halblangen dunklen Haaren, in Jeans und grauem Pullover, steht in der Halle des Deutschen Bundestages.
Rasha Nasr (SPD) ist eine von drei Kandidatinnen und Kandidaten, die es mit Unterstützung von Brand New Bundestag ins Parlament geschafft haben. © Deutschlandradio / Madeleine Hofmann
Von Madeleine Hofmann · 14.03.2022
Audio herunterladen
Eine Lobby für die Jungen: Die Initiative Brand New Bundestag unterstützt junge und diverse Politikerinnen und Politiker bei der Bundestagskandidatur. Ihr Vorbild ist eine US-Organisation, die bereits sechs Abgeordnete in den Kongress gebracht hat.
Juni 2018, New York: Die damals 28-jährige Kellnerin Alexandria Ocasio-Cortez aus der Bronx gewinnt überraschend die parteiinternen Vorwahlen für das Repräsentantenhaus gegen den langjährigen Amtsinhaber Joe Crowley.
„Ich bin Puerto-Ricanerin, meine Vorfahren waren afrikanische Sklaven, und ich bin stolz, Amerikanerin zu sein", erklärte sie damals. "Heute haben wir es geschafft, eine Maschine mit einer Bewegung zu stoppen!“
Eine Bewegung, die durch die Dokumentation „Knock Down The House – Frischer Wind im Kongress“ so richtig an Fahrt gewinnt. Denn der Film macht die junge Frau mit Spitznamen AOC zum Star der neuen Linken und zum Vorbild einer ganzen Generation politisch engagierter junger Menschen – die Generation AOC. Die Begeisterung für ihren Mut, gegen die alten, reichen Männer anzutreten, die Hoffnung auf Veränderung und Diversität in der Politik schwappen bis zu uns über den Ozean.

Seit 1988 ist der Sitz in den Händen einer Familie

Doch zuerst besuche ich eine Nachahmerin in den USA. Imani Oakley, 31 Jahre alt, ist aufgewachsen in Montclair, einem 38.000-Einwohner-Städtchen in New Jersey, gut 30 Kilometer von New York City entfernt.
“Alle hier im Park sind People of Color. Das hier ist der Stadtteil der Schwarzen Arbeiterklasse. Und gleich wirst du oben am Berg die weißere, wohlhabendere Ecke der Stadt sehen. Ich trete hier in diesem Bezirk an – gegen den Schwarzen Amtsinhaber Donald Payne.“
Donald Payne ist seit 2012 der Demokratische Abgeordnete des 10. Wahlbezirks im Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten. Vor ihm hatte das Amt sein Vater inne. Die Angelegenheiten des Wahlbezirks befinden sich somit seit 1988 in den Händen einer einzigen Familie – ohne ernstzunehmende Konkurrenz.
Heute gehört die Stadt zum Speckgürtel von New York, ist attraktiv für Pendlerinnen und Pendler und wird in Medienberichten liebevoll-spöttisch „Mini-Brooklyn“ genannt, weil die aus der Großstadt Zugezogenen es immer hipper, immer mehr zur Kopie der New Yorker Szeneviertel machen.

"Mein Einkommen wird hier gebraucht"

Das kleine Einfamilienhaus, in dem Imani mit ihrer Mutter lebt, befindet sich gegenüber eines Basketballplatzes, wo heute, am Sonntagmittag ein Jugendturnier stattfindet. Weil das Coronavirus immer noch wütet, möchte Imanis Mutter lieber keine Besucher im Haus. Auf der sonnigen Holzveranda, wo noch Sticker vom Obama-Wahlkampf 2008 kleben, erklärt mir Imani, warum sie in den Kongress will. Für dieselbe Partei wie der Amtsinhaber: die Demokraten.
“Ich bin 31 Jahre alt, und mein Einkommen wird hier gebraucht. Wenn ich ausziehen würde, müsste unser Haus zwangsversteigert werden, weil meine Mum sich die Hypothek nicht leisten könnte. Wie fast überall wird es in Montclair immer teurer. Für Leute, die hier aufgewachsen sind, ist es unerschwinglich, nach der Ausbildung zurückzukommen. Die Jobs und die Bezahlung haben mit den steigenden Immobilienpreisen nicht mitgehalten.“
Imani Oakley sitzt auf der Treppe ihres Wohnhauses in der Stadt Montclair. Sie hat lange, schwarze Haare und trägt einen bunten Mund-Nasen-Schutz im Gesicht.
Imani Oakley will einen Sitz im US-Kongress und tritt an gegen den Parteikollegen Donald Payne, der seit 2012 alle Wahlen im 10. Wahlbezirk für das US-Repräsentantenhaus gewonnen hat.© Deutschlandradio / Madeleine Hofmann
Imani gehört zur Generation AOC. Sie wurde nicht nur von der jungen Politikerin inspiriert, sondern teilt mit vielen Altersgenossen die Erfahrungen der prekären Ausbildungs- und Jobsituation: Nach dem Studium hochverschuldet, wollte Imani als Anwältin arbeiten, setzte ihr juristisches Wissen aber schon bald bei der Arbeit in den Büros von Politikern und Organisationen ein. Ihre Enttäuschung über die Arbeit derjenigen, die ein Amt innehatten, stieg.
In Imanis Augen taten sie nicht genug, waren oft korrupt. Es war schließlich die Geschichte von AOC, die ihr den Mut gab, selbst anzutreten:

„Ich war so frustriert von der Feigheit vieler Amtsinhaber. Sie gaben Interviews, saßen auf Panels, aber sie übernahmen keine Verantwortung, sie taten nichts. Mir hat es dann gereicht, ich wusste, ich muss selbst antreten. Und dann hat AOC gewonnen und ich dachte: Ach, du Schande, jemand in meinem Alter, eine Person of Color wie ich kann das tatsächlich schaffen. Und zwar jetzt sofort! Wir müssen schließlich dringend die Wohnungskrise lösen, wir müssen so viele Probleme lösen. Wir haben keine Zeit zu warten.“

1,7 Millionen Dollar Wahlkampfkosten

Für die Kongresswahlen 2022, die Midterms im November macht Imani ernst: Sie hat sich Unterstützung gesucht, eine Kampagne gestartet.

Doch der Wahlkampf hat seinen Preis. Die Non-Profit-Plattform opensecrets.org berichtet: Rund 1,7 Millionen US-Dollar kostet es neue Kandidaten durchschnittlich, eine erfolgreiche Wahlkampagne für das Repräsentantenhaus zu stemmen. Das führt dazu, dass Wohlhabende meist unter sich bleiben, denn wer auf einen Brotjob angewiesen ist, hat kaum eine Chance.
Imani kämpft sich durch: mit Erspartem und einem Privatkredit ihres Bruders. Gerade vom Geld will sie sich nicht unterkriegen lassen, denn das sei schließlich Ursprung und Treiber vieler Probleme in ihrer Heimat. Das erzählt sie mir bei einer Autofahrt durch das Villenviertel ihres Wahlbezirks. Wegen der Pandemie tragen wir Maske – Imanis Modell schmückt ihr Gesicht mit der bunten Flagge New Jerseys. Sie steht für Freiheit und Wohlstand.

„Es gibt Leute, die der Ansicht sind, Menschen aus der Arbeiterschicht sollten nicht kandidieren“, sagt Imani.
„Das heißt, wer wenig Geld hat, soll nicht regieren. Das ist eine unfassbare Einstellung. Dazu kommt, dass Menschen, die schon immer vom System benachteiligt wurden, in der Realität doch bessere Politiker und Politikerinnen sind, weil sie wissen, was in Ordnung gebracht werden muss.“

Ein mühsamer Spendenlauf

Um nicht abhängig von Industrieinteressen zu sein, nimmt Imani keine Spendengelder von Großunternehmen und -banken an. Das macht den Wahlkampf zum mühsamen Spendenlauf, bei dem sie sich Unterstützung von Freunden, Bekannten, ehemaligen Schulkolleginnen erbittet. Viele dieser Spendenaufrufe erfolgen pandemiebedingt telefonisch, oft aus dem Auto zwischen Terminen – oder während unserer Stadttour: “Ich rufe an, um zu hören, ob du bereit bist, mich mit 1500 Dollar zu unterstützen.”
Keine angenehmen Gespräche, aber auf diese Weise sind allein bis Ende Januar rund 250.000 US-Dollar zusammengekommen. Nur so kann der Kreislauf von der Macht des Geldes und dem einflussreichen Netzwerk durchbrochen werden.
Unterstützung bekommt Imani von Brand New Congress, einer der jungen Organisationen, die sich als Lobbygruppe für die in der Politik Unterrepräsentierten verstehen, sich der Wahlkampfhilfe für progressive Außenseiterkandidatinnen und –kandidaten verschreiben.

Das Geld muss aus der Politik verschwinden

Brand New Congress hat kein Hauptquartier, nicht einmal Büroräume. Schon vor der Pandemie arbeiteten die Teammitglieder von ihren Schreibtischen - im ganzen Land verteilt. Eine der Ehrenamtlichen kann ich persönlich treffen: in New York.
Im Künstlerviertel East Village treffe ich Chris Riley. Für sie ist es die erste nicht-virtuelle Begegnung seit vielen Monaten. Wegen der Pandemie treffen wir uns – trotz Regenwetters und Straßenlärm - draußen. Bei einem Kaffee erklärt mir Chris, die hauptberuflich Fotografin ist, wie Brand New Congress seit 2016 versucht, die politische Landschaft in den USA progressiver zu machen:
“Richtige Veränderung kann hier erst stattfinden, wenn wir das Geld aus der Politik rausbekommen. Wenn es nicht mehr so viel kostet, wird es einfacher für politische Ämter zu kandidieren. Wir führen keine Kampagnen durch, aber wir beraten und unterstützen Kandidatinnen dabei, Spenden zu sammeln, ein gutes Team aufzubauen und selbst eine erfolgreiche Kampagne zu starten.“

Auf die Motivation kommt es an

Es ist eine Art Casting und Coaching für Politikneulinge: Interessierte können sich bewerben oder vorgeschlagen werden. Gesucht werden in ihrer Gemeinde gut vernetzte Engagierte, die einen realen Bezug zu ihrem Wahlkreis haben. Die Motivation aus der persönlichen Geschichte heraus ist – neben dem fehlenden Vermögen – oft der größte und bedeutendste Unterschied zu etablierten Amtsinhabern, erklärt Chris.
„Die Kandidaten und ihre Gemeinden zu verstehen und gut zu kommunizieren, ist extrem wichtig, auch um Helfer und Helferinnen für die Kampagne zu finden. Man muss in der Lage sein, sie zu begeistern, ihnen vermitteln, wie dringend ihre Unterstützung gebraucht wird. Deshalb ist die wichtigste Frage für unsere Kandidaten: Warum tust du das? Was motiviert dich, warum opferst du für diese Kandidatur deine und unsere wertvolle Zeit?“
Bernie Sanders, der 80-jährige Senator aus Vermont, bewarb sich 2016 und 2020 in den Vorwahlen als Präsidentschaftskandidat der Demokraten. Seine Partei konnte er zwar nicht überzeugen, dafür jedoch Millionen junge Menschen in den USA für seine Ideen begeistern. Er wurde zum politischen Popstar, aus seinen verlorenen Wahlkämpfen entstand die Sanders-Bewegung.

"Es ist egal, ob du Republikaner oder Demokrat bist"

Cory Archibald erinnert sich noch gut an diese Zeit, die auch die Geburtsstunde von Brand New Congress war. Als langjähriges Führungsmitglied kümmert sie sich um strategische Fragen. Sie ist zugeschaltet per Video-Telefonat – aus Kuwait, wo die Amerikanerin aktuell lebt.
“Diese Organisation wurde mit der Idee gegründet: Lasst uns diese Wahnsinnsbewegung nehmen, die aus der Bernie-Sanders-Kampagne entstanden ist, und sie auf die Kongresswahlen übertragen. Lasst uns viele Kandidaten und Kandidatinnen gleichzeitig aufstellen, die durch gemeinsame Prioritäten vereint sind.
Es ist egal, ob du Republikaner oder Demokrat bist – solange du zustimmst, dass wir eine globale Klimakrise haben, dass wir Krankenversicherung für alle brauchen, dass wir keine Spenden von Großkonzernen oder Banken annehmen. Lasst uns also so viele Menschen wie möglich finden, die sich auf diese Punkte einigen können und lasst uns dann buchstäblich den Kongress neu besetzen – daher der Name: Brand New Congress.“

Die Macht des Geldes brechen

Alexandria Ocasio-Cortez war der erste und berühmteste Erfolg von BNC. Inzwischen hat sich die Gruppe der von Brand New Congress und verwandten Organisationen unterstützten Kongressmitglieder auf sechs vergrößert, alle aus den Reihen der Demokraten. Der Spitzname der Gruppe: „the Squad“, auf Deutsch: „die Gang“.
„Das Netzwerk und die Beziehungen sind unser Geheimnis. Für ein politisches Amt zu kandidieren, kann höchst traumatisch und isolierend sein. Es hat seinen Grund, warum wohlhabende Menschen eher dazu tendieren zu kandieren: Sie haben schon ein mächtiges, einflussreiches Netzwerk. Das erst einmal aufzubauen, ist ein langwieriger Prozess, das wissen wir. Wir investieren in diesen Prozess, denn es dauert Jahre, um starke Partnerschaften aufzubauen – zu den Gemeinden, den Wählern, den Kandidaten. Manchmal wissen wir, dass sie keine Chance haben zu gewinnen, aber wir unterstützen sie trotzdem, denn dann gewinnen sie vielleicht bei der nächsten oder übernächsten Wahl.“
Ein junger Mann in Pullover und schwarzer Jeans sitzt auf einem Tisch.
Neue Abgeordnete braucht das Land: Damit der Bundestag jünger und diverser wird, unterstützt die Initiative um Max Oehl entsprechende Kandidatinnen und Kandidaten.© Deutschlandradio / Madeleine Hofmann
Progressive Kandidaten aufbauen, mit ihnen nachhaltig die politischen Institutionen beeinflussen –  diese Strategie hat auch in Deutschland Nachahmer gefunden.
„Brand New Bundestag ist eine progressive Graswurzel Organisation, die sich dafür einsetzt, dass diverse progressive Menschen in Parlamente kommen. Wir agieren überparteilich und sind überwiegend ehrenamtlich organisiert“, erklärt Max Oehl.
Die Ähnlichkeiten zu Brand New Congress, sogar im Namen, sind kein Zufall, denn es war der Film, der schon Imani inspiriert hat, von dem auch Oehl sich hat begeistern lassen.
„Ich weiß, dass mich der Trailer von der Doku schon total elektrisiert hatte, weil ich das Gefühl hatte, Mensch, das ist irgendwie so was Neues und ich das Gefühl hatte, so was braucht eigentlich die deutsche politische Landschaft auch“, sagt er. „Ich habe die Doku sofort am ersten Tag gesehen, als sie dann online war. Und nachdem ich sie gesehen hatte, habe ich dann den Rest des Tages damit verbracht, darüber nachzudenken, wie kann man diesen Ansatz nach Deutschland bringen.“

So progressiv und divers wie möglich

Hierzulande hat die Organisation im Gegensatz zum amerikanischen Vorbild ein Büro. Natürlich in der Hauptstadt. Noch allerdings liegen die Räume, wo ich mich mit Max Oehl, dem Gründer von Brand New Bundestag treffe, rund zehn Kilometer Luftlinie vom Reichstag entfernt.
Auf einem ehemaligen Filmgelände, wo sich auch Aktivistinnen, zum Beispiel der Umweltschutzbewegung Extinction Rebellion treffen. Eine Gruppe, die sich wie Brand New Bundestag für eine progressivere Politik einsetzt – nur eben auf der Straße, mit Protestaktionen.

„Das große Potenzial liegt aus unserer Sicht in der Verknüpfung von zivilgesellschaftlicher und parlamentarischer parteipolitischer Arbeit. Dass es eben nicht eine Kluft ist zwischen diesen beiden Welten oder das als getrennte Bereiche verstanden wird. Das Ziel ist es, dass die deutsche Politik so progressiv und divers wie möglich ist“, sagt Oehl.
„Die Leute, die jetzt quasi im Rentenalter sind, wird es nicht mehr groß tangieren, die werden die Veränderungen nicht mehr alle mitbekommen. Die Leute, die jetzt auf die Straße gehen für Fridays for Future, sind Anfang 20, und deren persönliche Lebenspläne werden von der Frage beeinflusst, wie stark wir uns um die Klimapolitik und den Klimaschutz kümmern. Und deswegen ist klar, dass die Generation eine laute Stimme haben muss.“

Verkrustete Strukturen als Problem

Noch ist in Sachen Diversität in unseren Parlamenten gelinde ausgedrückt Luft nach oben: Nur etwa sieben Prozent der Bundestagsabgeordneten waren zu Beginn der neuen Legislaturperiode unter 30, nur knapp 35 Prozent sind weiblich. Die wenigsten kommen aus einem Ausbildungsberuf - und neu ins Parlament eingezogen sind nur 37 Prozent der Abgeordneten. Das Durchschnittsalter der Parteimitglieder von Union und SPD liegt über 60, bei Linke, FDP und Grünen um die 50.
„Deswegen trifft man als junger Mensch, Menschen so meiner Generation häufig auf Netzwerke, auf Personen, auf Seilschaften, die über Jahrzehnte hinweg entstanden sind, wo Leute sich vielleicht schon in der Jugendorganisation kennengelernt haben und einfach ganz lange schon miteinander politisch gearbeitet haben“, sagt Oehl.
"Deswegen gibt es halt so eine Kultur von: wir sprechen das hier unter uns in unserem informellen Netzwerk –  das vielbeschworene Hinterzimmer –  mal ein bisschen ab, was hier so läuft. Und wenn ein junger Mensch reinkommt und neue Ideen mitbringt und was aufmischen will, dann steht da er erst mal vor der Herausforderung, sich überhaupt erst mal diesen Strukturen zurechtzufinden und es überhaupt zu schaffen, da quasi einen Fuß an Deck zu bekommen.“

Auch Parteilose werden unterstützt

Obwohl die US-amerikanischen Kolleginnen neidvoll auf die Möglichkeiten des deutschen Mehrparteiensystems blicken – eine neue, junge Partei gründen zum Beispiel –, geht Brand New Bundestag bewusst einen anderen Weg.

„Uns ist nicht geholfen, wenn das progressive Lager oder die progressiven Parteien, progressive Kräfte sich auf noch mehr unterschiedliche Parteien verteilen. Man sieht ja auch bei manchen, die schon länger und mit viel Einsatz das Ganze machen, dass die immer noch Probleme haben, die Fünf-Prozent-Hürde zu überspringen.
Es gibt ja auch in den großen Parteien wirklich viele Leute mit hehren Zielen, mit viel Qualität. Und für uns ist es einfach der effektivere Weg, über bestehende Parteistrukturen zu gehen und die dafür zu nutzen, dass eben die richtigen Leute es ins Parlament schaffen. Und deswegen war klar, dass wir in irgendeiner Form ein Kooperationsverhältnis zu den Parteien suchen müssen. Und dementsprechend haben wir dann auch sehr früh angefangen, einfach mit Leuten aus den Parteien zu sprechen.“

Auch Parteilose werden unterstützt

Trotzdem unterstützt Brand New Bundestag – manchmal nur kurz BNB genannt – auch Parteilose, die ins Parlament wollen. Solange sie die Hauptforderungen der Organisation teilen: chancengerechte Bildung zum Beispiel, ein nachhaltiges Finanzsystem, Klimaneutralität. Die Auswahl erfolgt dann ähnlich wie in den USA: Man bewirbt sich oder wird vorgeschlagen. Dann wird in Auswahlgesprächen und Jurysitzungen entschieden, wer die volle Unterstützung von Max Oehl und seinem Team erhält. Diese wird schließlich individuell auf die Bedürfnisse der Kandidaten zugeschnitten:
„Bevor man überhaupt erst in diese Situation kommt, dass man selbst kandidiert, braucht man ja jemanden in der Partei, der einen aufstellt, dann wählt. Und da setzen wir uns eben dafür ein, dass Leute, die aus unserer Sicht für zukunftsfähige Politik stehen und die auch häufig Perspektiven mitbringen, die im jetzigen Diskus unterrepräsentiert sind, tatsächlich am Ende auch erfolgreich werden können in der Parteistruktur.
Teilweise sind das interne Gespräche in den Parteien, die wir führen, es ist aber auch häufig Öffentlichkeitsarbeit, Pressearbeit, einfach um zu zeigen, was für ein Potenzial in der Kandidatin steckt. Und so schaffen es dann die Leute, die von BNB unterstützt werden, im Idealfall eben wirklich auf einen guten Listenplatz oder werden als Direktkandidaten nominiert.“

Drei haben es in den Bundestag geschafft

Zur Bundestagswahl 2021 zählte Brand New Bundestag über 200 Ehrenamtliche, unterstützte zehn Kandidatinnen und Kandidaten, von denen es drei in den Bundestag geschafft haben.

Eine von ihnen ist Rasha Nasr. Als Bundestagsabgeordnete für den Wahlkreis 159 vertritt die 29-Jährige Dresden und den südlichen Teil des Landkreis Bautzen. Viel Aufmerksamkeit hat sie für ihr eigenes Videoformat bekommen, die so genannte Cupcake-Politik. 

Redaktionell empfohlener externer Inhalt

Mit Aktivierung des Schalters (Blau) werden externe Inhalte angezeigt und personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt. Deutschlandradio hat darauf keinen Einfluss. Näheres dazu lesen Sie in unserer Datenschutzerklärung. Sie können die Anzeige und die damit verbundene Datenübermittlung mit dem Schalter (Grau) jederzeit wieder deaktivieren.

„Hey, mein Name ist Rasha Nasr und meine Hobbys sind: Backen, Katzen und Politik. Das ist ein Red-Velvet-Cupcake mit Cream Cheese Frosting und einem kleinen Kuchenstück on top. Es ist ein Schoko-Cupcake mit Schoko-Creme. Und hier obendrauf steht ein kleines Haus. Das heißt, jetzt geht es um bezahlbares Wohnen... Backen ist ja schon ein bisschen so wie Politik: Man braucht die richtigen Zutaten, die richtigen Mengen, die richtigen Instrumente – und ganz viel Geduld.“
Das Konzept: Politik zugänglich und verständlich für alle machen. Ein besonderes Anliegen für die junge Sozialdemokratin, denn die Wurzeln ihres Engagements liegen nicht in der klassischen Parteipolitik. Das erzählt sie mir im Paul-Löbe-Haus, wo sie ihr erstes Abgeordnetenbüro beziehen durfte. Wir nehmen allerdings in der geräumigen Lobby Platz, denn die Büros sind noch provisorisch, die Neuverteilung der Büros für den neuen Bundestag noch nicht abgeschlossen.
„Ich erinnere mich noch, wie wir mit 500 Gegendemonstranten gegen 8000 Pegida-Leute demonstriert haben. Ich komme eigentlich von der Straße, das heißt, ich habe die Forderungen auch mitgenommen und wollte das dann aber eben in dem Parteikontext irgendwie einbringen, weil ich der Meinung bin, dass wir viel mehr auch die Forderungen von der Straße in die Partei einbringen müssen, damit die sie auch politisch umsetzen. Deswegen war es für mich eben wichtig, irgendwann aus dem Aktivistischen rauszukommen und Politik zu machen.“

Ein ungewöhnlich rasanter Aufstieg

Rasha ist erst 2017 in die SPD eingetreten, arbeitete in der Pressestelle der SPD Sachsen und im Büro des innenpolitischen Sprechers der Landtagsfraktion, bevor sie im Oktober 2020 ihre Kandidatur für die Bundestagswahl verkündete. Ein für die alten Volksparteien ungewöhnlich rasanter Aufstieg.

„Weil es immer noch sehr darum geht, wen du kennst und welche Netzwerke du hast“, erklärt sie. „Gerade in den altehrwürdigen Parteien spielen Strukturen immer noch eine sehr große Rolle. Deswegen war das eben auch bei mir so – wie soll ich sagen: Es wurde kritisch beobachtet, dass ich da einfach so mein Ding gemacht habe und ein bisschen auf die Strukturen gepfiffen habe.
Ich hatte natürlich auch das Glück, dass ich zweieinhalb Jahre in der Pressestelle der SPD Sachsen gearbeitet habe und natürlich sehr viele Kontakte knüpfen konnte, viele Genossinnen und Genossen auch schon kannte. Aus dem ganzen Land. Das hat mir vielleicht einen Vorteil gebracht, den andere junge Mitglieder nicht haben.“

Brand New Bundestag hat Türen geöffnet

Trotzdem galt es noch, den innerparteilichen Wahlkampf zu überstehen: Ein Mitbewerber im eigenen Wahlkreis machte eine gute Platzierung auf der Landesliste noch wichtiger für Rasha. Dafür brauchte es einen gewissen Bekanntheitsgrad. Die Unterstützung von Brand New Bundestag kam also – obwohl erst nach Bekanntgabe der Kandidatur – genau zur richtigen Zeit.
„Brand New Bundestag hat ganz klare Angebote formuliert, und das war genau das, was ich auch brauchte. Also ganz viel Presse und Öffentlichkeitsarbeit. Da ist wirklich, kurz nachdem die Jury für mich entschieden hat, ein Artikel im Spiegel erschienen, und da stand: ‚Deutsche AOC gesucht‘. Und da war ein Bild von mir drunter, und es ging um Brand New Bundestag. Und das war so eine große Nummer, weil aus allen Ecken und Enden dieser Bundesrepublik auf einmal Rückmeldung kam und ganz viele Leute auf einmal wissen wollten, wer ich bin, und das war ganz spannend. Und so hat mir Brand New Bundestag ganz viele Türen geöffnet, die ich selbst nur sehr schwer oder vielleicht gar nicht hätte öffnen können.“

Grünen-Chefin Ricarda Lang als Vorbild

Es klappt nicht nur mit Listenplatz 4, sondern auch mit der Direktkandidatur und somit auch mit dem Einzug in den Bundestag. Dort sorgt Rashas Mandat tatsächlich für mehr Diversität: Zwar hat sie wie viele andere Abgeordnete einen Hochschulabschluss, aber sie ist eine Frau, unter 30, aus dem Osten der Bundesrepublik und mit Migrationsgeschichte. Die politischen Institutionen diverser und jünger zu machen, bleibt für Rasha auch nach ihrem eigenen Einzug ins Parlament ein großes Anliegen.
„Wenn die immer gleiche Gruppe von Leuten zusammenkommt, wird sie auch die immer gleiche Politik machen. Und deswegen würde ich schon sagen, dass wir auf der einen Seite dafür sorgen sollten, dass wir als Parteimitglieder unsere Partei nach vorne bringen, aber eben auch in Zusammenarbeit mit anderen Leuten aus anderen Parteien da gemeinsam vorangehen. Ich habe sehr guten Kontakt zu Ria Schröder zum Beispiel. Ich finde sie ist eine sehr kompetente Frau. Ricarda Lang ist für mich ein Vorbild, genauso wie Jessica Rosenthal.“

Die Infrastruktur der Parteien nutzen

Der Austausch mit anderen jungen Menschen, um innerhalb der eigenen und in Zusammenarbeit mit anderen Parteien progressive Ideen voranzubringen. Genau die Strategie, die Brand New Bundestag verfolgt. Dafür weiten Max Oehl und sein Team ihr Engagement jetzt auf die Ebene der Lokalpolitik aus, unterstützen Kandidaten bei den Landtagswahlen. Trotz der Unterschiede im politischen System immer dem Credo der amerikanischen Vorbilder von Brand New Congress folgend. Cory Archibald formulierte es bei unserem Gespräch so:
„Unsere beste Option ist es, die Infrastruktur der Parteien zu übernehmen, die schon existieren – und sie zu unseren eigenen zu machen.“
Derweil bereitet sich Imani Oakley in Montclair im Bundesstaat New Jersey auf den Endspurt vor. Für die Vorwahlen im Juni stehen ihre Chancen gut. Wenn sie die innerparteiliche Wahl gewinnt, ist ihr der Kongresssitz so gut wie sicher. Sie profitiert davon, dass ihr Wahlkreis in fester Hand der Demokraten ist. Dennoch ist gerade vom Amtsinhaber der eigenen Partei heftiger Gegenwind zu erwarten. Imani bleibt gelassen.
“In der Politik wird dich immer irgendjemand angreifen. Wenn nicht, ist das wahrscheinlich, weil du ein typischer Heuchler bist, der jedem erzählt, was er hören will. Und das ist nicht meine Marke, das ist nicht, wer ich bin. Ich bin hier für die große Veränderung, für Erneuerung.“
Dieser dringende Wille nach der großen Veränderung eint die junge Kongresskandidatin in den USA mit der jungen Bundestagsabgeordneten Rasha, und er eint die Ehrenamtlichen von Brand New Congress mit ihren deutschen Nachahmern von Brand New Bundestag. Eine staatenübergreifende Verbindung, die Max Oehl und Cory Archibald bald bei einem nicht-digitalen Austauschtreffen zu stärken hoffen. Denn auf beiden Seiten des Atlantiks erweist sich die Modernisierung des politischen Systems als mühsamer und langwieriger Weg, für den es sich lohnt, Komplizen an der Seite zu haben.

Mitwirkende
Redaktion: Carsten Burtke
Regie: Clarisse Cossais
Technik: Christiane Neumann
Sprecherinnen: Cornelia Schönwald, Bettina Kurth, Barbara Becker, Katja Bigalke, Franziska Rattei

Mehr zum Thema