Junge US-Demokraten

Gegen das reiche Establishment

26:53 Minuten
Imani Oakley sitzt auf der Treppe ihres Wohnhauses in der Stadt Montclair. Sie hat lange, schwarze Haare und trägt einen bunten Mund-Nasen-Schutz im Gesicht.
Imani Oakley will einen Sitz im US-Kongress und tritt an gegen den Parteikollegen Donald Payne, der seit 2012 alle Wahlen im 10. Wahlbezirk für das US-Repräsentantenhaus gewonnen hat. © Deutschlandradio / Madeleine Hofmann
Von Madeleine Hofmann · 14.02.2022
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Im US-Wahlkampf für die Midterms im November mischen auch junge Frauen und Männer mit, die ohne viel Geld und alte Seilschaften einen Platz im Kongress wollen. Sie haben dem Establishment beider Parteien den Kampf angesagt und feiern erste Erfolge.
Montclair, rund 38.000 Menschen wohnen hier in Städten im US-Bundesstaat New Jersey, gut 30 Kilometer von New York City entfernt. Der hiesige Abgeordnete des 10. Wahlbezirkes im US-Repräsentantenhaus heißt Donald Payne. Seit 2012 gewinnt er alle zwei Jahren die Wahlen als Mitglied der Demokraten. Vor ihm hatte das Amt sein Vater inne. Seit 1988 befinden sich die Angelegenheiten des Wahlbezirks in den Händen einer einzigen Familie - ohne ernstzunehmende Konkurrenz.
Imani Oakley will das ändern: "Ich trete hier in diesem Bezirk an – gegen den Schwarzen Amtsinhaber Donald Payne.“

Politikerin unterstützt Mutter finanziell

Die junge Frau will in den US-Kongress, für die Demokraten, als erste weibliche Abgeordnete ihres Wahlbezirks.
“Ich bin 31 Jahre alt und mein Einkommen wird hier gebraucht. Wenn ich ausziehen würde, müsste unser Haus zwangsversteigert werden, weil meine Mum sich die Hypothek nicht leisten könnte.“
In Imanis Freundeskreis tun sich viele schwer, nach der Ausbildung Fuß zu fassen - obwohl ihnen von den älteren Generationen andere Versprechen gemacht wurden.
“Als Jugendliche wurde uns gesagt: geht los, macht einen guten Abschluss, das wird euer Leben verändern. Dann haben wir das gemacht und bekamen zur Belohnung all diese Studienkredite um die Ohren gehauen und einen prekären Arbeitsmarkt. Das ist für uns also nicht wirklich gut gelaufen.“

44 Millionen verschuldete Studierende

Stattdessen sind die Probleme gerade für junge Menschen landesweit größer geworden: Sie kämpfen gegen Rassismus, zunehmende Polizeigewalt, gegen finanzielle Existenzangst.
In den letzten zehn Jahren hat sich die Zahl der Studienkreditnehmer_innen jährlich um rund eine Million erhöht: Derzeit haben mehr als 44 Millionen junge Amerikaner_innen am Ende der Ausbildung Schulden, durchschnittlich umgerechnet rund 35.000 Euro. Vielerorts können sie sich keine Wohnung leisten.

Ist zu viel Geld in der US-Politik das Problem?

Montclair ist durch die Nähe zu New York ein attraktiver Wohnort für Berufspendler – der Wohnungsmarkt ist umkämpft, weil die Großstädter kommen und so wird es für die Alteingesessenen schwer, erklärt Imani Oakley: “Viele sind weggezogen. Wie fast überall wird es in Montclair immer teurer." Für die Leute, die hier aufwuchsen, sei es unerschwinglich, nach der Ausbildung zurückzukommen: "So teuer ist es geworden, hier zu leben. Aber die Jobs und die Bezahlung haben nicht mitgehalten.“
Geld sieht Imani als Ursprung und Treiber vieler Probleme in ihrer Heimat. Doch Politiker_innen wie der amtierende Kongressabgeordnete täten oft nichts dagegen, weil sie sich dieser Probleme gar nicht bewusst seien. Er ist – wie die Mehrheit der Parlamentarier_innen in den USA – wohlhabend. Und genau da liege das Problem, so die Nachwuchspolitikerin. Sie will andere Leute im Kongress sehen.
„In der Praxis sind Menschen, die schon immer vom System benachteiligt wurden, bessere Politiker_innen, weil sie wissen, was in Ordnung gebracht werden muss.“

Wahl von Alexandria Ocasio-Cortez als Mutmacher

Bei einer Tour durch ihre Heimatstadt im geleasten, roten Mustang erzählt Imani, dass sie schon als Schülerin politisch interessiert war. Nach dem Studium wollte sie als Anwältin arbeiten, setzte ihr juristisches Wissen aber schon bald bei der Arbeit in den Büros von Politiker_innen und Organisationen ein. Noch ein paar Jahre Erfahrung wollte sie sammeln, bevor sie sich selbst aufs politische Parkett wagt.
Doch dann schaffte es 2018 plötzlich mit überwältigendem Erfolg eine 28-jährige New Yorker Kellnerin in den Kongress: Alexandria Ocasio-Cortez!
Die US-amerikanische Politikerin Alexandria Ocasio-Cortez von den Demokraten steht auf einer Bühne. Im Hintergrund ist der Schriftzug "The Green New Deal" zu erkennen.
Der politische Star der neuen, progressiven Linken: die US-amerikanische Politikerin Alexandria Ocasio-Cortez von den Demokraten.© picture alliance / dpa / AP Photo / Cliff Owen
Der politische Star der neuen, progressiven Linken. Ihr Wahlsieg veränderte das politische Selbstvertrauen einer ganzen Generation. Darunter: Imani Oakley. “Ich dachte: Ach du Schande, jemand in meinem Alter, eine Person of Colour wie ich kann das schaffen. Und zwar jetzt sofort!“

Erster Wahlkampf in Vollzeit

Für die Kongresswahlen 2022, die Midterms im November, macht Imani ernst: Sie hat sich Unterstützer_innen gesucht, eine Kampagne gestartet.
Doch der Wahlkampf hat seinen Preis: Für gute Chancen braucht es vollen Einsatz, Zeit für einen Job bleibt Imani schon seit Mitte letzten Jahres nicht mehr: “Es ist Vollzeit. Ich habe ein bisschen Geld gespart und einen Privatkredit von meinem Bruder bekommen.“
Wer in den USA ein hochrangiges politisches Amt bekleiden will braucht Geld, viel Geld, wie die Non-Profit-Plattform "OpenSecrets.org" berichtet: "2013 bestand der US-Kongress zum ersten Mal in seiner Geschichte in der Mehrheit aus Superreichen, mindestens Millionär_innen."
Die begehrten, teuren Werbespots, große Teams, öffentlichkeitswirksame Auftritte - all das muss man sich leisten können. Für Imani bedeutet das: Kalt-Akquise. Vor allem telefonisch bitten sie und ihr Team um Spenden. Zum Beispiel bei Leuten, die sie noch aus der Schulzeit kennt oder von der Uni: „Ich rufe an, um zu hören, ob du bereit bist, mich mit 1500 Dollar zu unterstützen.“

1,7 Millionen US-Dollar kostet der Wahlkampf

Das seien keine angenehmen Gespräche, aber essenziell für ihre Kampagne, sagt Imani. Rund 1,7 Millionen US-Dollar kostet es neue Kandidat_innen durchschnittlich, eine erfolgreiche Wahlkampagne für das Repräsentantenhaus zu stemmen.
Eine Vorselektion. Denn mit dem Geld kommt ein einflussreiches Netzwerk. Und mit dem einflussreichen Netzwerk schließlich die Macht. Und umgekehrt. Ein Kreislauf, der all diejenigen ausschließt, die auf einen Brotjob angewiesen sind. Den zu durchbrechen, haben sich einige junge Organisationen auf die Fahnen geschrieben: zum Beispiel Brand New Congress, kurz BNC. Eine Lobbygruppe, die sich der Wahlkampfhilfe für bestimmte Kandidat_innen oder Gruppen verschreibt. Auch Imani wird von ihnen unterstützt.
Brand New Congress hat kein Hauptquartier, nicht einmal Büroräume. Schon vor der Pandemie arbeiteten die Teammitglieder mobil im ganzen Land verteilt. Eine von ihnen ist Chris Riley. Ich treffe sie in New York.
“Richtige Veränderung kann hier erst stattfinden, wenn wir das Geld aus der Politik rausbekommen. Wenn es nicht mehr so viel kostet, wird es einfacher, für politische Ämter zu kandidieren. Wir beraten und unterstützen Kandidat_innen dabei, Spenden zu sammeln, ein gutes Team aufzubauen und eine erfolgreiche Kampagne zu starten. Aber wir führen die Kampagnen nicht für sie durch.“ 
Interessierte Politikneulinge können sich bei Brand New Congress bewerben oder vorgeschlagen werden. Gesucht sind in ihrer Gemeinde gut vernetzte Engagierte, die einen realen Bezug zu ihrem Wahlkreis haben. Die Motivation aus der persönlichen Geschichte heraus ist – neben dem fehlenden Vermögen – oft der größte und bedeutendste Unterschied zu etablierten Amtsinhaber_innen, meint Chris Riley: "Die wichtigste Frage ist: Warum? Was motiviert Dich, warum opferst Du für diese Kandidatur Deine wertvolle Zeit?“

Viele Politikneulinge sind Fans von Bernie Sanders

Doch die Kandidat_innen, die von Brand New Congress gecoacht werden, haben noch weitere Gemeinsamkeiten – und diese erinnern an die Werte und Forderungen eines inzwischen weltbekannten 80-jährigen linken Senators aus Vermont:
Bernie Sanders bewarb sich 2016 und 2020 in den Vorwahlen als Präsidentschaftskandidat der Demokraten. Zwar konnte er nicht die Demokratische Partei, dafür jedoch Millionen junger Amerikaner_innen für seine Ideen wie Krankenversicherung und bessere Arbeitsbedingungen für alle begeistern. Er wurde regelrecht zum Popstar. Eine "Sanders-Bewegung" entstand, deren Energie und Veränderungswillen viele aktive Unterstützer_innen nach der Wahlniederlage weitertragen wollten.
Bernie Sanders am Rednerpult, daran ist ein Schild mit der Aufschrift "A future to believe in - berniesanders.com" befestigt.
Wurde regelrecht zum Popstar: Bernie Sanders - hier bei einer Wahlkampfveranstaltung 2016 in New York City.© picture alliance / zz/Dennis Van Tine/STAR MAX/IPx
Cory Archibald erinnert sich noch gut an diese Zeit. Sie ist langjähriges Führungsmitglied von Brand New Congress, kümmert sich vor allem um strategische Fragen. Per Video-Telefonat erklärt sie die Anfänge von BNC.
“Diese Organisation wurde mit der Idee gegründet: Lasst uns diese Wahnsinnsbewegung, die aus der Bernie-Sanders-Kampagne entstanden ist, nehmen und sie auf die Kongresswahlen übertragen. Lasst uns viele Kandidaten gleichzeitig aufstellen, die durch gemeinsame Prioritäten vereint sind", sagt sie.
"Es ist egal ob du Republikaner oder Demokrat bist – solange du zustimmst, dass wir eine globale Klimakrise haben, dass wir Krankenversicherung für alle brauchen, dass wir keine Spenden von Großkonzernen oder Banken annehmen. Lasst uns also so viele Menschen wie möglich finden, die sich auf diese Punkte einigen können und lasst uns dann buchstäblich den Kongress neu besetzen – daher der Name: Brand New Congress.“

Sechs neue Kongressmitglieder als "The Squad"

Alexandria Ocasio-Cortez war der erste und berühmteste Erfolg der Gruppe, der auch Imani Oakley inspiriert hat. Inzwischen hat sich die Gruppe der von Brand New Congress und verwandten Organisationen unterstützten Kongressmitglieder auf sechs vergrößert, alle aus den Reihen der Demokraten. Und mit eigenem Spitznamen: "The Squad", zu deutsch: die Gang oder das Team.  
Weil im amerikanischen Zweiparteiensystem die Chancen auf politische Mitsprache außerhalb der Republikanischen oder Demokratischen Partei schlecht stehen und republikanische Newcomer wenig mit den Ideen von Brand New Congress anfangen können, konzentriert sich das Engagement der progressiven Organisationen inzwischen vor allem auf die Demokraten und darauf, ohnehin freiwerdende Posten für ihre Kandidat_innen zu gewinnen oder langjährige, wenig progressive Amtsinhaber_innen herauszufordern, erklärt Cory Archibald.
“Es hat einen Grund, warum Menschen, die schon reich oder schon Teil eines politischen Netzwerkes sind, nicht zögern, in den Wahlkampf zu ziehen: Weil sie schon die Macht und die Allianzen haben, die sie dafür brauchen. Wir versuchen auch normale Leute damit auszustatten und ihnen so zum Wahlsieg zu verhelfen. Dabei nutzen wir die existierende Infrastruktur der Parteien. Wir machen sie uns zu eigen.“

Wiedergeburt des linken Flügels bei Demokraten

Eine Praxis, die nicht allen gefällt. Anfeindungen – häufig persönlich gegen die prominente Alexandria Ocasio-Cortez – kommen aus allen politischen Lagern: auch von etablierten Politiker_innen der Demokratischen Partei, wie dem Senator von West Virginia, Joe Manchin: “Alles was die junge Dame tut, ist provozieren.“ 
Im September hat Alexandria Ocasio-Cortez mit ihrer "Squad" bewiesen, wozu sie als neue Gruppierung im Parteiensystem fähig sind: Um schnell ihren Zielen in der Bildungs-, Gesundheits- und Wohnungspolitik näher zu kommen, blockierten die Abgeordneten um Alexandria Ocasio-Cortez den „Infrastruktur-Plan“ von Präsident Biden – bis dieser schließlich an einen Sozialplan gekoppelt wurde.
Ein kluger Schachzug und ein Zeichen für die Wiedergeburt eines linken Flügels innerhalb der Demokratischen Partei, findet Gary Gerstle. Der amerikanische Historiker forscht an der Universität Cambridge zu Demokratie und sozialen Bewegungen in den USA. Im Frühjahr erscheint sein neues Buch. Darin beschreibt er, wie sich linke Bewegungen wie Black Lives Matter und Occupy Wall Street in den letzten Jahren institutionalisiert haben: durch linke Senator_innen wie Elizabeth Warren und Bernie Sanders und mithilfe von Organisationen wie Brand New Congress.
„Sie versuchen, einige Themen in die amerikanische Politik zurückzubringen, die zuletzt ausgeschlossen wurden: Sie fokussieren sich auf wirtschaftliche Ungleichheit und auf die Idee, dass die USA nicht behaupten können, eine zivilisierte, gute Nation und Gesellschaft zu sein, solange sie sich nicht um diese Ungleichheiten kümmert und sie reduziert. Das Ziel der Bewegung ist es, alle möglichen Menschen in die amerikanische Politik zu bringen, die zuvor nicht einbezogen wurden. Die USA sind durch die Anwesenheit einer starken Linken im Parteienapparat belebt worden und ich denke die progressive Bewegung hat das möglich gemacht.“

Punkten die "Linken" auch fern der Metropolen?

Statt einer ganz eigenen, progressiven und parteiübergreifenden Strömung hätten Organisationen wie BNC also eine neue linke Kraft innerhalb der Demokratischen Partei hervorgebracht. Aber es gebe auch große Herausforderungen, so Historiker Gerstle.
“Meine Sorge bei BNC und der Squad ist ihre Fähigkeit auch außerhalb von New York, Boston, Detroit, Minneapolis erfolgreich zu sein, dass sie auch in den dünner bevölkerten Regionen Menschen davon überzeugen können, für sie und ihre Inhalte zu stimmen.“
Sonst sei es im dezentralen amerikanischen Wahlsystem schwer, als neue Strömung - auch innerhalb einer der beiden großen Parteien - langfristigen Erfolg zu haben. Eine neue Bewegung nachhaltig wirkungsvoll zu machen sei eine langwierige Angelegenheit.
„Von den Republikanern kann man sich einiges abschauen. Sie sind jetzt seit 20, 30, 40 Jahren sehr präsent in der Lokalpolitik außerhalb der Metropolen. Ich denke, wenn die Linken erfolgreich sein wollen, brauchen sie Weitblick und sie müssen sich auf einen langen Weg einstellen. Sie müssen vorbereitet sein, 10, 20 Jahre zu ackern, bevor sie die Früchte ihrer Arbeit ernten können. Es ist wichtig für die Linke, zu sehen, wie verwundbar sie noch ist, aber die Gruppe muss auch wahrnehmen, wie sehr sie die amerikanische Politik schon jetzt verändert hat.“

Imani Oakley hat 250.000 US-Dollar gesammelt

Politikneuling Imani Oakley profitiert von der Stärke der Demokraten in Ballungsgebieten. Montclair, das in vielen Medien liebevoll-spöttisch als hippes Mini-Brooklyn bezeichnet wird, gehört zum Speckgürtel von New York – und ist in fester Hand der Demokraten. Besiegt Imani den Amtsinhaber Donald Payne aus der eigenen Partei in den Vorwahlen im Sommer, ist ihr der Kongresssitz so gut wie sicher. Die Chancen dafür stehen gut.
Rund 250.000 Dollar hat sie bis Anfang Januar eingesammelt, größtenteils über Kleinspenden, und der Verdruss über den untätigen Amtsinhaber ist groß. Doch erfahrungsgemäß rücken mit dem Wahldatum auch die schärferen, oft persönlichen Angriffe näher. Noch ist sie gelassen angesichts dieser Perspektive.
“In der Politik wird dich immer irgendjemand angreifen. Wenn nicht, ist das wahrscheinlich, weil du ein typischer Heuchler bist, der jedem erzählt, was er hören will. Und das ist nicht meine Marke, so bin ich nicht. Ich bin hier für die große Veränderung, für Erneuerung. Also, ja, sicher, einigen wird das ganz bestimmt nicht passen.“

Diese Recherche wurde im Rahmen des Transatlantic Media Fellowship von der Heinrich-Böll-Stiftung Washington DC unterstützt.

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