Bismarcks Themen sind auch unsere

Rezensiert von Erik von Grawert-May · 08.09.2013
Der erste Reichskanzler verstand viel von Wirtschaft, aber die Globalisierung überforderte ihn, berichtet ein instruktiver Sammelband. Dass Bismarck eine "deutsche Dynastie" begründet haben soll, kann Jochen Thies' lesenswerte Familiengeschichte nicht ganz beweisen.
Globalisierung wird allgemein eher für ein Zeichen jüngerer wirtschaftlicher Entwicklung gehalten. Die Autoren von "Otto von Bismarck und die Wirtschaft" behaupten dagegen, dass schon der Reichskanzler mit Problemen global integrierten Welthandels zu kämpfen hatte, ohne es indes genau zu wissen. Was zu mancher Fehlentscheidung von ihm führte. Die Ursache sieht Michael Epkenhans, einer der beiden Herausgeber, in Folgendem:

"Bismarck (hat) am Ende die Dynamik der modernen Industriegesellschaft nicht verstanden. Am Ende seines Lebens scheint Bismarck dies klar geworden zu sein. Als Albert Ballin ihm 1895 den Hamburger Hafen mit seiner Betriebsamkeit zeigte, bekannte er freimütig: 'Ja, das ist eine neue Zeit, eine ganz neue Welt.'"

Zu seinen Glanzzeiten zeigte sich Bismarck aber sehr wohl in ökonomische Angelegenheiten eingeweiht. Es ist gerade das Ziel des Buches, den Leser mit dieser ihm weniger vertrauten Rolle des Reichskanzlers bekannt zu machen. Selbst in so komplizierten Fragen wie dem Bimetallismus und der Goldwährung konnte er mithalten. Dass er sich für letztere entschied, hatte jedoch nicht primär wirtschaftliche, sondern politische Gründe. Der Souveränität des Nationalstaates galt sein vorrangiges Interesse.

Darin allerdings kam eine andere Schwierigkeit seines Regierungsstils zum Ausdruck. Aufgrund des bereits damals sichtbaren Fortschritts in den globalen Verflechtungen hing beides, Politik und Ökonomie, so eng zusammen, dass eine einseitige politische Einflussnahme negative wirtschaftliche Konsequenzen haben konnte.

Zum Beispiel übersah sein Schwenk zur Schutzzollpolitik am Ende der 70er-Jahre die Vorteile eines weiteren Festhaltens am Freihandel und war daher eher zu kurzfristig angelegt.

Bei aller Kritik im Einzelnen erweisen die Autoren dem Kanzler jedoch ihren Respekt. Er war nicht nur innen- wie außenpolitisch, sondern in gewissem Umfang auch wirtschaftspolitisch versiert. Dabei behielt er angemessenen Abstand zu Lobbyisten unterschiedlichster Couleur, ohne auf ihren Rat verzichten zu müssen. Viele suchten sein Vertrauen, er aber schenkte keinem seines.

Cover Michael Epkenhans, Ulrich von Hehl (Hg.): "Otto von Bismarck und die Wirtschaft"
Cover Michael Epkenhans, Ulrich von Hehl (Hg.): "Otto von Bismarck und die Wirtschaft"© Ferdinand Schöningh Verlag
Michael Epkenhans, Ulrich von Hehl (Hg.): Otto von Bismarck und die Wirtschaft
Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn Juni 2013
248 Seiten, 29,90 Euro


Während dieser sehr instruktive Sammelband zu dem Ergebnis kommt, Bismarck habe sich am Ende selber überlebt, sieht Jochen Thies uns heute in eine Zeit versetzt, die ähnliche Züge wie die Bismarck-Ära trägt:

"Mühsam begreift die Nation in diesen Jahren, dass sich die Themen des 19. Jahrhunderts wiederholen und dass damit die alten Probleme der Bismarck-Zeit den Deutschen erhalten geblieben sind: die Mittellage, das ökonomische Gewicht, die Dynamik, die Einwohnerzahl, die Rolle des Militärischen und ein allzu gering ausgeprägtes Verständnis für außenpolitische Belange."

Thies ist nicht der einzige, der das so sieht. Es liegt in der Luft und scheint der rechte Zeitpunkt, um erneut auch über den alten Bismarck nachzudenken. Über den, der die Dynastie begründete.

Doch ist es heute noch eine? Der Biograf musste sich schon zu Beginn seines Vorhabens gegen Kritik von Insidern zur Wehr setzen:

"'Die Bismarcks? Kann man über sie überhaupt noch etwas Neues schreiben?' Der eine oder andere führende akademische Bismarck-Experte vertrat sogar die Auffassung, Herbert von Bismarck und seine Kinder seien wenig ergiebig, die Enkel historisch 'nicht relevant'. Dem ist zu widersprechen."

Thies gelingt es tatsächlich, Herbert, dem ältesten Sohn des Kanzlers, interessante Konturen zu verleihen. Er hätte ihm die Führung des Außenamtes zugetraut, wäre Herbert nur dem Ansinnen Wilhelms II. gefolgt, ihm eine wichtige politische Position zu verschaffen.

Doch der Sohn hing zu sehr an dem vom Kaiser entlassenen Vater, als dass er bereit gewesen wäre, unter Wilhelm II. eine bedeutende Rolle zu spielen. Hätte Herbert als Liebhaber des britischen Lebensstils nicht vielleicht das deutsche Flottenrüsten und dadurch sogar den Ersten Weltkrieg vermeiden können?

"Somit muss man es als tragisch bewerten, dass der deutsche Außenseiter und Englandkenner Herbert von Bismarck nie in die Mittlerrolle gelangt ist, die für das Kaiserreich so wichtig geworden wäre."

Unter den anderen Bismarcks sticht vor allem Hannah, die älteste Tochter Herberts, hervor. Sie hatte die kommende Barbarei mit einem Scharfsinn vorausgesehen, der dem aller anderen Bismarcks überlegen war. Einen Tag nach der Machtergreifung schrieb sie in ihr Tagebuch:

"Die Welt ist aus den Fugen, und wir können nur abwarten, bis uns das Genick umgedreht wird. Scheußlich. Die Menschen sind alle toll. Ich habe so etwas nicht für möglich gehalten. Ach, Gottfried! Er wird furchtbare Dinge erleben."

Gottfried war ihr Bruder, der zunächst mit den Nationalsozialisten sympathisierte, später jedoch seiner Schwester Abbitte leistete und in den Widerstand ging, wie schließlich alle Bismarcks. Gottfried gehörte sogar zum engsten Stauffenberg-Kreis.

Ihn hätte vermutlich das elende Schicksal James Graf Moltkes ereilt, wäre nicht Hitler persönlich für ihn eingetreten: Aus Angst vor der Reaktion im Ausland auf die Hinrichtung eines Bismarck. Der Führer als Schutzengel: Eine Mutmaßung, die viel für sich hat.

Der Untertitel dieses Buches "Eine deutsche Dynastie" mag wegen des Fehlens dynastischer Momente unter den Nachkommen des alten Bismarck etwas hoch gegriffen sein. Doch Jochen Thies hat uns wieder eine typische Familiengeschichte aus seiner Feder geliefert, so wie die über die Dohnanyis und die Moltkes.

Das Verhältnis zum Nationalsozialismus durchzieht wie ein roter Faden alle drei Biografien. Und wir erfahren aufs Neue, dass es meist die Frauen waren, die von allen den größten politischen Weitblick besaßen. Allein das lohnt die Lektüre.

Mit Recht verweist der Autor darauf, dass wir auf solche Familien stolz sein sollten. Und wenn es richtig ist, dass wir außenpolitisch wieder mit Problemen aus der Ära Ottos von Bismarck konfrontiert sind, trotz vieler veränderter Vorzeichen, dann ist es gut, über ihn und seine Nachkommen besser Bescheid zu wissen. Die Kenntnis der globalen Wirtschaftszusammenhänge haben wir dem Alten wenigstens voraus.

Cover Jochen Thies: "Die Bismarcks"
Cover Jochen Thies: "Die Bismarcks"© Piper Verlag
Jochen Thies: Die Bismarcks. Eine deutsche Dynastie
Piper Verlag München, April 2013
432 Seiten, 22, 99 Euro, als e-book 16,99 Euro
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