Zynischer Politiker

14.11.2012
Jonathan Steinberg schafft es, dem Leser Otto von Bismarck in allen seinen Facetten nahezubringen. Er streicht die handwerkliche Staatskunst heraus, verschließt aber nicht die Augen vor den Folgen, die Bismarcks autokratischer Regierungsstil für Deutschland und die Welt hatte.
Wer einen Roman der Weltliteratur liest, etwa Henry Fieldings "Tom Jones" (1749) oder Charles Dickens‘ "David Copperfield" (1849), wird in ein komplexes, letztlich objektiv präsentiertes, a-moralisches Beziehungsgeflecht eingewoben und versteht am Ende des Romans, wie und warum der Protagonist von den für sein Leben spezifischen Beweggründen geformt wurde. Jonathan Steinbergs Bismarck Biografie vereint akribische Quellensuche und -Auswertung mit der Ästhetik großer Romankunst. All die für das Verständnis von Bismarcks mysteriöser Psyche relevanten Facetten ermöglichen es dem Leser, wie bei einer Romanfigur, ihren Charakter in statu nascendi, von Kindheit und Jugend an, wahrzunehmen.

Steinberg nutzt die Fülle verstreuter und bisher unbekannter Aussagen von Zeitzeugen und versetzt uns somit immer in die Lage, Bismarcks Werdegang durch die Augen von Menschen mitzuerleben, die ihm nahe waren. Als Jonathan Steinbergs Bismarck vor einem Jahr bei Oxford University Press erschien, wurde sie in der Kritik zu Recht als die bisher beste englischsprachige Biografie des in der angelsächsischen Welt nur schemenhaft bekannten 'Blut-und-Eisen‘-Kanzlers gerühmt.

Damit die geschichtsinteressierten englischsprachigen Leser Bismarck einordnen und besser verstehen können, bezieht Steinbergs Biografie von Anfang an die Kulturgeschichte Englands mit ein. Um das preußische Junkertum etwa, zumindest im Kontrast, vorstellbar zu machen, vergleicht Steinberg Bismarcks Vater mit einem englischen Landadligen, der sich letztlich doch krass von ihm unterscheidet. Durch die gesamte Bismarck Biografie bindet der Autor seine Leser immer wieder ein in die ihnen vertraute Welt.

Was Jonathan Steinberg entlang der Chronologie von Bismarcks Aufstieg, Herrschaft und Fall immer klar herausarbeitet, ist, dass Bismarck ohne Prinzipien war, dass er - trotz seiner persönlichen Liebenswürdigkeit gegenüber Menschen aller Schichten - politisch ein großer Zyniker war, der die parlamentarische Demokratie als sein Puppenspiel instrumentalisierte und wesentlich Schuld daran hat, dass die damalige Gesellschaft durch und durch antisemitisch vergiftet war. Bismarck selbst war zwar, wie Steinberg zeigt, kein Antisemit, er hat den Antisemitismus aber strategisch eingesetzt für den bedingungslosen Machterhalt seiner Hohenzollern Dynastie, die er bis 1890 beherrschte.

Im Gegensatz zu so manchem Biografen, der unter dem Eindruck der historischen Bedeutung seines 'Helden‘ dessen Schwächen klein redet, verschließt Jonathan Steinberg trotz der von ihm geachteten hohen handwerklichen Staatskunst Bismarcks, den er neben Napoleon als den wichtigsten Politiker des 19. Jahrhunderts betrachtet, seine Augen nicht vor den fatalen Folgen, die sich für Deutschland und die Welt aus Bismarcks letztlich selbstzerstörerischen Realpolitik ergaben. Weil alle seine politisch-militärischen Züge auf dem europäischen Schachbrett von Erfolg gekrönt waren und auch seine revolutionäre Sozialpolitik Anerkennung fand, konnte sich im deutschen Kaiserreich die parlamentarische Demokratie nicht wirksam entfalten. Die wirkliche Macht befand sich in den autokratischen Händen von Bismarck, abgesegnet vom Kaiser. Was im Reichstag geschah, war Theater.

Am Ende seiner Ära, so das bedauernde Fazit von Jonathan Steinberg, hatte sich unter Bismarck "im deutschen Volk die Unterwürfigkeit zementiert, ein Gehorsam, von dem es sich nie erholt hat." Der deutsche Übersetzer meint es gut mit seinen Lesern, wenn er diese konfrontative Herausforderung so übersetzt: "Als Bismarck aus dem Amt schied, hatte sich die Servilität des deutschen Volkes so weit verfestigt, dass es sie für lange Zeit nicht mehr ganz abstreifen sollte."

Leider fehlen in der sonst sehr sorgfältigen Übersetzung sowohl die drei auch für deutsche Leser hilfreichen Karten des englischen Originals als auch der ausdifferenzierte Index der englischen Ausgabe. Wer Englisch gut lesen kann, sollte zum Original der Ausgabe von Oxford University Press greifen.

Besprochen von Hans-Jörg Modlmayr

Jonathan Steinberg: "Bismarck - Magier der Macht"
Propyläen Verlag, Berlin 2012
752 Seiten, Euro 29,90 Euro