Besessenheitskulte in Indien

Wenn die Göttin tobt

08:55 Minuten
Bildnis der Göttin Kalka im Kalkaji-Tempel, Neu-Delhi.
Wilde Gottheit im sanften Gewand: Bildnis der Göttin Kalka im Kalkaji-Tempel, Neu-Delhi. © Deutschlandradio / Antje Stiebitz
Von Antje Stiebitz · 14.11.2021
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Götter wähnt man in der Regel weit weg in himmlischen Welten. Aber was ist, wenn sie den Menschen ganz nahe kommen? Aus Indien wird immer wieder von solchen Besessenheiten berichtet – aber das ist nicht nur erschreckend.
Der Kalkaji Tempel im Süden von Neu-Delhi. Die Türen zum goldenen Schrein der Göttin Kalka sind noch geschlossen. Im Inneren verehren Hindu-Priester ihre Göttin mit komplexen Ritualen. Die Gläubigen draußen wollen ihre Göttin sehen. Sie warten geduldig und singen religiöse Lieder.

Heiliges Wasser besänftigt die Gläubigen

Der verwinkelte Kalkaji Tempel soll vor rund 3000 Jahren entstanden sein, also zu jener Zeit, in der das populäre Epos Mahabharata angesiedelt ist. Ein Fels soll aus der Erde gewachsen sein, der bis heute die Göttin Kalka verkörpert - eine Form der wilden und grimmigen Göttin Kali. Diese Göttin steht in dem Ruf, manchmal von ihren Gläubigen Besitz zu ergreifen. Der Priester Subash Bharadwaj bestätigt das:

"Heute ist es noch nicht passiert, aber manchmal fährt die Göttin in die Körper von Frauen ein. Wenn sie dann hierher in den Tempel kommen, beruhigen sie sich wieder. Wir klopfen ihnen auf den Rücken und bespritzen sie mit heiligem Wasser aus dem Ganges. Das besänftigt sie, und sie werden wieder sie selbst."

Zwei Priester des Kalkaji-Tempels in Neu-Delhi.
Personal der ungestümen Göttin: zwei Priester des Kalkaji-Tempels.© Deutschlandradio / Antje Stiebitz
Die Göttin zeige sich meist in Frauen, gelegentlich aber auch in Männern. Pawan Bharadwaj ist ebenfalls Priester. Er erklärt:
"Wir leben im Zeitalter des Internet und ich glaube nicht, dass irgendein Geist oder eine Göttin in ein menschliches Wesen fährt, weil der Mensch in diesem Universum eins der schlimmsten und schmutzigsten Geschöpfe ist. Wenn die Göttin in ein menschliches Wesen kommt, dann würde das den Körper zerstören. Der menschliche Körper kann die Göttin nicht fassen."

Warten auf eine Audienz bei Kalka

Der ohrenbetäubende Rhythmus der Glocken erreicht seinen Höhepunkt. In der ekstatischen Atmosphäre scheint es durchaus vorstellbar, dass sich die Göttin einem ihrer Gläubigen zeigt. Aber nichts dergleichen passiert.
Mit dem letzten Glockenschlag öffnen sich die Türen zum Schrein. Sie geben den Blick frei auf das mit goldenen Ornamenten, Blumen und Stoffen geschmückte silberne Gesicht der Göttin.
Menschen mit Mundschutz stehen in einer Warteschlange auf den Stufen zum Kalkaji-Tempel in Neu-Delhi.
Die Göttin bittet um etwas Geduld: Warteschlange auf den Stufen zum Tempel.© imago / Hindustan Times / Amal KS
Es ist ruhiger geworden und Rajendra Kumar ist bereit zu einem Gespräch. Der Analyst für Börsengeschäfte besucht den Tempel regelmäßig. Er glaubt, dass die Menschen von Göttern, aber auch von Geistern besessen sein können

Zu früh Gestorbene finden keine Ruhe

"Wenn jemand bei einem Unfall stirbt, bevor seine Zeit abgelaufen ist, dann wandelt er weiter auf der Erde umher", sagt Kumar. "Ein solcher Geist verbindet sich dann mit jemandem, der religiös aktiv ist."
Geister, erklärt Rajendra Kumar, suchten die Nähe der Göttin. Deshalb ergreifen sie von Menschen Besitz, die sie dann in den Tempel bringen. Solche Geister hätten allerdings oft eine zerstörerische Kraft. Bei der zweiten Art von Besessenheit handele es sich um Menschen, die von der Göttin erfasst werden.
Außenstehende, so der Analyst, könnten kaum unterscheiden, wer von einem Geist oder der Göttin besessen sei, da das das Verhalten ganz ähnlich sei. Ist man von der Göttin besessen, kann einem das besondere Fähigkeiten verleihen.
Gläubige mit Mundschutz beten am ersten Tag des hinduistischen Festivals von Navratri im Kalkaji-Tempel in Neu-Delhi, Indien. 
Im Allerheiligsten: Betende im Innern des Kalkaji-Tempels © imago / Hindustan Times / Amal KS
Die 34-Jährige Charanjeet Kaur Dhillion sitzt an einem Küchentisch im Süden der Stadt Delhi. Sie zeigt mir das Youtube-Video einer Frau. Ihr Oberkörper zuckt im Rhythmus der Musik. Sie wirbelt ihren Kopf im Kreis, so dass die langen Haare fliegen. Sie atmet stoßweise. Charanjeet Kaur Dhillion hält das Video auf ihrem Smartphone an. So sehe es aus, wenn die Göttin von einem Körper Besitz ergreift. Die 34-Jährige sitzt an einem Küchentisch im Süden der Stadt Delhi:

"Ich merke nicht, wenn es passiert", sagt Dhillion. "Nach der Besessenheit fühlt sich mein Körper ganz schwer an und schmerzt. Ich spüre immer erst später, dass da etwas passiert sein muss, weil ich hinterher so müde und schwach bin."

Angst und Verehrung

Als die Göttin das erste Mal von ihr Besitz ergriff, habe ihr das Angst gemacht, erinnert sich die junge Frau. Inzwischen habe sie sich daran gewöhnt. Bereits als Kind fühlte sie sich zur Göttin hingezogen. Bis heute verehrt sie sie und spricht mit ihr:
"Ich bekomme Antworten von ihr. Anfänglich habe ich ihre Botschaften ignoriert. Hätte ich die Hinweise verstanden, hätte ich den Unfall meines Ehemanns verhindern können."
Bevor ihr Ehemann mit seinem Auto verunglückte, hat die zweifache Mutter den Unfall im Traum gesehen. Die Göttin verleiht ihren Gläubigen besondere Gaben.
Guru Sudesh Sindhu umringt von seinen Anhängern.
Guru Sudesh Sindhu umringt von seinen Anhängern.© Deutschlandradio / Antje Stiebitz
Am Ufer des Flusses Yamuna, unweit des Kaschmir Gate. Guru Sudesh Sindhu sitzt auf einem Stuhl. Seine Anhänger sitzen um ihn herum, auf Mauerresten, einer Holzpritsche. Fünfzehn Ratsuchende sind heute anwesend. Sie leiden an Diabetes, haben Schulden oder führen eine unglückliche Ehe. Sie begrüßen den Guru, indem sie seine Füße berühren. Seit 23 Jahren hört Sudesh Sindhu ihnen zu und berät mit leiser Stimme. 500 bis 600 Menschen stehen mit ihm in Kontakt. Geld nimmt er dafür nicht. Seine Kraft, davon ist der 46-Jährige überzeugt, bekommt er von der Göttin: "Meine Familie verehrt die Göttin Kali – und das bereits seit Generationen."

Die Göttin erhört selbstloses Handeln

Einst, erinnert sich der Guru, sei seine Mutter krank gewesen. Als er zur Göttin gebetet habe, sei seine Mutter genesen. Seitdem glaubt er, dass die Göttin seine Gebete erhört und durch ihn wirkt:

"Der Grund dafür, dass sie mir zuhört, ist, dass ich selbstlos handele, ohne Gier", sagt Sudesh Sindhu. "Diese Art der Kraft existiert im Universum und sie heilt die Menschen. Würden diese Kräfte nicht existieren, könnte keine Heilung stattfinden."

Die Soziologin Archna Merh setzt sich mit indischen Heilmethoden auseinander: "Unsere Gesellschaft betrachtet die Besessenheit nicht als verrückt, eher als segensreich. Erlebt ein Mitglied einer Familie eine solche Besessenheit, begegnet die Gemeinschaft dieser Familie mit großem Respekt."

Intensiven Kontakt mit dem Göttlichen kennen alle Religionen

Merh sagt, dass es nicht immer die Göttin sei, die in die Körper der Gläubigen einfährt. Auch männliche Götter, wie Shiva oder Vishnu, ergreifen von Menschen Besitz. Archna Merh ist der Meinung: "Diese Art der Besessenheit gibt es nicht nur in einer Religion, sondern in allen."
Die Soziologin erklärt, muslimische Gemeinschaften glaubten, dass der Prophet oder Heilige in die Menschen komme. Indigene Gemeinschaften sprächen von heiligen Geistern. Allen Besessenen gemein sei die intensive emotionale Erfahrung, die sie kanalisierten und für andere sichtbar machten. Und solange diese Kräfte reinigend und heilend wirkten, nähme die Gemeinschaft sie als göttlich wahr. Für die Gläubigen im Kalkaji Tempel gilt das ganz bestimmt.
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