Indien

Hindu-Priesterinnen – umstritten, aber erfolgreich

07:42 Minuten
Eine Frau in traditionell hinduistischer Kleidung betet an einer Ganesha Figur.
Für viele Frauen in Indien gehören hinduistische Rituale wie die Kommunikation mit Götterstatuen zu ihrem Alltag. Doch nur wenige werden Priesterin. © picture alliance / ZUMA Wire / David Talukdar
Von Antje Stiebitz · 15.08.2021
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Dass sich Frauen in Indien für den Beruf der Hindu-Priesterin entscheiden, ist immer noch eine Ausnahme – und konservative Schriftgelehrte lehnen das ab. Doch die Nachfrage nach den weiblichen Ritualexpertinnen steigt, gerade bei privaten Feiern.
Auf dem Bildschirm ist nur das Gesicht von Manisha Potdar sichtbar. "Letztes Jahr hat mein Vater uns verlassen", erzählt sie. "Und nach unserer hinduistischen Vorstellung lebt er ab heute im Himmel."
Potdar erklärt, dass Hindus daran glauben, dass sich die Seele eines Verstorbenen zunächst noch ein Jahr lang auf der Erde aufhält. Heute feiert die Familie eine Varsha Shraddha, eine Art Ahnenritual, um an den Verstorbenen zu denken.

Die Priesterin ist nur über Videokonferenz dabei

Das Ritual findet zu Hause bei den Potdars statt, in der Stadt Pimpri. Über Videokonferenz ist die Priesterin Manisha Shete aus der rund 15 Kilometer entfernten Stadt Pune zugeschaltet. Die Corona-Pandemie macht eine gemeinsame Feier vor Ort unmöglich.
Die Tochter des Verstorbenen hält das Bild ihres Vaters vor die Kamera. Dann gibt sie den Blick auf einen niedrigen Tisch frei, neben dem drei Teller mit Ritualgegenständen stehen, darunter Reisbälle, Palmblätter und ein Messingbecher mit Wasser.
Auf einem Computerbildschirm ist eine indische Frau mit Brille bei einer Videokonferenz zu sehen.
Per Videokonferenz leitet Priesterin Manisha Shete das Gedenkritual an.© Priesterin Manisha Shete
Jetzt übernimmt Manisha Shete die Regie: Die Priesterin fragt nacheinander ab, ob alle Zutaten für das Ritual bereit liegen. Die fünfköpfige Familie Potdar ist für das Ritual in ihrem Wohnzimmer zusammengekommen. Auch die Ehefrau des Verstorbenen sitzt da, in einen weißen Sari gehüllt. Sie wird heute unter Anleitung der Priesterin das Ritual durchführen.
"Normalerweise ist es Tradition, dass das Ritual von einem männlichen Familienmitglied ausgeführt wird", erklärt Manisha Shete: "Aber unsere Tradition, unser Institut stärkt Frauen darin, es durchzuführen, wenn sie das wollen."
Die Priesterin leitet die Ritualausführende an, sagt ihr, wann sie die Handflächen zur Namaskar-Geste zusammenlegen, die Lichter anzünden oder das Wasser über ihre Hände auf die drei Reisbälle gießen soll. Die Reisbälle, erklärt die Priesterin, stehen für die drei vorangegangenen Generationen. Durch das Ritual und den Gesang der Mantren lädt die Familie Potdar ihre Ahnen ein.

Heute werden ausdrücklich Priesterinnen gewünscht

Manisha Shete arbeitet seit 16 Jahren als Hindu-Priesterin. Ihre Ausbildung hat sie in Pune am Jnana-Prabodhini-Institut abgelegt. Das Institut setzt sich unter anderem für Ausbildung, Forschung und die Stärkung von Frauen ein. Momentan arbeitet es mit 35 Priesterinnen zusammen. In ganz Indien gibt es rund 7000 Priesterinnen.
In den letzten Jahren, erklärt Manisha Shete, habe ihr Institut eine Veränderung erlebt: "Wenn jemand vor zehn oder fünfzehn Jahren einen Priester brauchte, bestanden die Menschen darauf, dass es ein Mann ist. Aber seit sechs oder acht Jahren wollen sie ausdrücklich Priesterinnen." Insbesondere in den Großstädten und in der indischen Diaspora steige die Nachfrage nach Priesterinnen.
Für die Menschen, die in Dörfern und kleinen Städten lebten, sei eine hinduistische Priesterin aber noch immer unvorstellbar. Gegenwind, so Manisha Shete, bekämen die Frauen vor allem von ihren männlichen Berufskollegen.

In den größeren Tempeln führen Männer die Rituale durch

Ich mache mich auf die Suche nach einem, der mit mir über Priesterinnen sprechen will.
Im Hanuman Tempel am Connaught Place in Neu-Delhi ist es ungewöhnlich ruhig. Wegen der Corona-Pandemie kommen weniger Besucher als sonst. Die Glocken, die die Gläubigen sonst anschlagen, bevor sie der Gottheit gegenübertreten, sind aus Hygienegründen mit Tüchern umwickelt, damit sie nicht genutzt werden. Eine große Glocke direkt vor dem Hanuman-Schrein ist zwar festgebunden, wird aber trotzdem angeschlagen. Sie klingt dumpf.
Lalit Sharma ist einer der Hauptpriester des traditionsreichen Tempels. Der Schriftgelehrte sagt: "In den Schriften steht, dass Frauen einige der Verehrungsrituale durchführen können. Es gehörte etwa zu ihren Aufgaben, zu Hause eine Lampe anzuzünden. Aber in den größeren und wichtigeren Tempeln wurden die Rituale immer nur von männlichen Priestern durchgeführt."

Ein Gott, der keine Frauen in seiner Nähe haben will

Ältere Frauen dürften den Boden im Tempel reinigen oder Essensgaben darbringen, fährt der Priester fort. Zu Hause gehöre Fasten zu den Aufgaben einer Frau. Dann erklärt er: "Der Gott Baba Balaknath hat deutlich gesagt, dass er keine Frau in seiner Nähe haben möchte, ganz gleich ob im Abstand von 500 oder 100 Metern. So wird es gehandhabt. Wir können die erotischen Empfindungen anderer nicht kontrollieren."
Die Priesterin Manisha Shete betont, dass es in Indien sehr verschiedene Traditionen gibt und dass es lange Zeit weibliche Asketinnen gab, die auch Rituale durchgeführt haben: "Wir bestehen immer darauf, dass wir gleichwertig sind, und damit ist es unser Recht zu lernen und die Hymnen zu rezitieren. Denn unsere heiligen Schriften, der Veda, erlauben uns das Rezitieren. Also stellt sich die Frage nicht, warum wir es tun."

Warum sollten Männer das besser können?

Manisha Shete rezitiert Mantren, die Familie Potdar wiederholt sie. Die herbeigerufenen Ahnen werden mit Opfergaben verehrt, beispielsweise mit Blumen, Pflanzen-Samen und den Blättern der heiligen Tulsi-Pflanze. So werde den Ahnen für alles gedankt, was sie getan haben, erklärt Manisha Shete. Mit ihren präzisen Anleitungen führt die Priesterin durch die Zeremonie und beendet sie nach eineinhalb Stunden mit einem letzten Mantra.
Für Manisha Shete ist ihr Beruf eine Möglichkeit, ihre Religion und Kultur zu praktizieren. Sie weiß nicht, warum Männer das besser können sollten als Frauen. Familie Potdar jedenfalls bedankt sich überschwänglich bei der Priesterin.
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