Südindische Palmblatt-Bibliotheken

Weissagung nach Daumenabdruck

07:51 Minuten
Schmale Streifen alter Palmblattschriften liegen nebeneinander.
Blätter, die die Zukunft deuten: Von den Palmblattschriften des Heiligen Agastya erhoffen sich viele Menschen Vorhersagen über ihren Lebensweg. © dpa / imageBROKER / Olaf Krüger
Von Antje Stiebitz · 30.05.2021
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Nicht nur in Indien lassen sich viele Menschen die Zukunft vom Heiligen Agastya vorhersagen – seine uralten Prognosen sind auf Palmblättern festgehalten. Das passende Palmblatt soll sich über die Form des Daumenabdrucks finden lassen.
Lokender Singh sitzt auf einem Stuhl im Wartezimmer des "Shri Agathiyar Sukhar Naadi Jyodish Bhawan" in Neu-Delhi, einer nordindischen Zweigstelle der Palmblatt-Bibliothek, die in der südindischen Stadt Coimbatore beheimatet ist. Er erzählt:
"Ich habe es vor fünf, sechs Jahren machen lassen. Und die Voraussagen waren sehr genau. Die Palmblätter haben mir eine wirklich gute Beratung geliefert. Sie haben mir eine Liste von Prognosen gegeben, die alle wahr geworden sind."

Vorhersagen auf einem alten Palmblatt

Der 45-Jährige wartet heute auf eine Freundin, die er für eine Beratung hierhergebracht hat: "Sie behaupten, dass es vor tausend oder fünftausend Jahren einen Heiligen gab, der diese Manuskripte für unzählige Menschen geschrieben haben soll."
Erst haben die Mitarbeiter der Palmblatt-Bibliothek seinen rechten Daumenabdruck genommen, erinnert sich Lokender Singh. Nach vier Tagen benachrichtigten sie ihn dann, dass sie sein Palmblatt gefunden hätten, und teilten ihm mit, welche Vorhersagen Agastya für ihn aufgeschrieben habe. Was lässt ihn daran glauben, dass die Vorhersagen richtig sind?
"Das ist das traditionelle indische Wertesystem. Wir Inder haben einen sehr starken mythologischen Hintergrund. Die Vorhersagen sind keine Wissenschaft, man muss daran glauben."
Dann kommt seine Freundin durch die Tür. Sie hat gerade ihren Daumenabdruck abgegeben und verabschiedet sich vom Manager der Zweigstelle. Am Montag, sagt er, soll sie wiederkommen, dann wüssten sie bereits mehr über ihren Fall.

108 verschiedene Daumenabdrücke

Der Manager trägt ein Polo-Shirt und einen südindischen Lungi - eine Art Wickeltuch - um die Hüften. Er bringt mich ins Beratungszimmer. Dort sitzt Guru Sakthivel hinter einem dunklen Schreibtisch. Rechts neben ihm steht ein großes Bild des Weisen Agastya. Vor ihm liegt ein geöffnetes Palmblatt-Bündel.
Im Beratungszimmer sitzt Guru Sakthivel hinter seinem Schreibtisch.
Agentur für Zukunftsfragen: Guru Sakthivel in seinem Beratungszimmer.© Deutschlandradio / Antje Stiebitz
Auf den pergamentfarbenen, rund 30 Zentimeter breiten holzigen Blättern, die mit einem Faden verbunden sind, reihen sich runde Buchstaben eng aneinander. Geschrieben in einer alten Variante der südindischen Sprache Tamil. Da Guru Sakthivel kein Englisch spricht, setzt sich Manager S. B. Rama Krishna Mohan zum Übersetzen neben ihn. Der Heilige Agastya, erklärt er, habe die Menschen anhand ihrer Daumenabdrücke klassifiziert:
"Agastya hat namentlich 108 Daumenabdrücke unterschieden. Die Linien mancher Abdrücke beginnen im Zentrum, andere beginnen von oben, andere von unten. Manche sehen wie Kreise aus, andere sind wellenförmig. Es gibt verschiedene Arten von Punkten, die im Daumenabdruck auftreten. Nach diesen Merkmalen hat Agastya seine Zukunftsvorhersagen geschrieben."

Nicht alle finden ihr persönliches Palmblatt

Passt ein Daumenabdruck zu einem Palmblatt-Bündel, folgt die Frage nach dem richtigen Namen, nach dem Geburtsort, den Namen der Eltern, der Geschwister, des Lebenspartners, um dann das richtige Blatt aus dem Bündel herauszusuchen. Bestätigt der Klient diese Basisdaten, liest der Guru die Vorhersagen.
"Wir können nicht versprechen, dass jeder, der zu uns kommt, sein Palmblatt findet", erklärt der Manager. "Wir finden es nur, wenn es vorherbestimmt ist. Manchmal finden von 100 Menschen 100 ihr Palmblatt, manchmal von 100 nur zwei. Manche finden ihr Palmblatt sofort, andere erst nach einem Monat."
Palmblatt-Bündel mit altindischen Schriftzeichen.
Palmblatt-Bündel mit altindischen Schriftzeichen.© Deutschlandradio / Antje Stiebitz
Guru Sakthivel liest nicht nur für indische Klienten die Zukunft. In seiner Filiale fragen Kunden aus der ganzen Welt an: Japan, Singapur, USA und Europa. Wer nicht persönlich kommt, erhält seine Vorhersagen online. Das klingt dann so:
"Ihr rechter Daumenabdruck hat zwei Kreise und zwei Punkte. Nach dem englischen Kalender sind Sie 1974 im Monat Mai geboren. Ihr Geburtsdatum ist Samstag, der 25., gemäß Ihrem Geburtsdatum und den Planetenkonstellationen wurde Sie in Nordindien als jüngstes Kind ihrer Eltern geboren. Wenn Sie kommen und Ihre Vorhersagen sehen wollen, leben Ihre Eltern noch."

Ein Heiliger, der in die Zukunft sah

Wie ist es möglich, dass Agastya einem Computer gleich unzählige Daten und Informationen über Menschen aufschrieb, die weit in der Zukunft leben würden? Und wieso hat er diese Vorhersagen gemacht? Agastya sei der älteste einer Gruppe von Weisen gewesen, erklärt der Guru, und beginnt die Namen der Weisen aufzuzählen. Dann ergänzt der Manager:
"Das Götterpaar Shiva und Parvati hat Agastya ausgewählt, weil er ein sehr mächtiger Heiliger war. Er konnte die Zukunft kraft seiner Meditation sehen."
Wer im Netz nach "Nadi Jyotish" sucht, so wird diese Art der Deutung genannt, findet eine ganze Reihe von Anbietern. Alle berufen sich auf den heiligen Agastya. Während die Klienten bei Guru Sakthivel erst zahlen, wenn ihr Palmblatt gefunden wurde, verlangen andere bereits Geld für die Suche.

Viel Raum für Spekulation

Meera Nanda sagt dazu: "Ich greife nicht die Menschen an, die Rat suchen. Das Leben ist schwer, und die Menschen suchen nach Antworten."
Nanda ist Biologin und Wissenschaftsphilosophin. Die indische Wissenschaftlerin unterrichtet am Trinity College im US-amerikanischen Bundesstaat Connecticut. Sie hat mehrere Bücher über die Rolle der Religion in Indien geschrieben. Sie stört sich daran, dass religiöse und mythologische Vorstellungen in Indien nicht kritisch hinterfragt werden:
"Niemand kann Mythologie abschaffen und keiner sollte das auch nur versuchen. Mythologie liefert symbolische Bedeutungen, aber in Indien wird Mythologie fast wörtlich verstanden."
Ist es plausibel, fragt Meera Nanda, dass ein allwissender Mensch wie der Heilige Agastya gelebt hat? Die Wissenschaftlerin plädiert dafür, dass Historiker und Linguisten die Palmblatt-Sammlungen wissenschaftlich unter die Lupe nehmen. Denn das ist bislang noch nicht geschehen.
Doch genau diese undurchsichtige Situation macht die Palmblatt-Manuskripte vermutlich so populär. Sie fasziniert und lässt Raum für mystische Spekulation, Verklärung und Projektion – umso mehr, wenn die Vorhersagen zum Leben der Antwortsuchenden passen.
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