Barbaros Altuğ: „Ausländer“

Neuanfang und Heimatsehnsucht

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Auf dem Cover ist eine Collage zu sehen mit einem zur Seite geneigten Berliner Fernsehturm, einem Minarett, einer Berliner Trambahn und mehreren Möwen. Darüber der Autorenname und der Buchtitel.
© Orlanda Verlag

Barbaros Altuğ

Übersetzt von Johannes Neuner

Orlanda, Berlin 2022

157 Seiten

19,00 Euro

Von Dirk Fuhrig · 17.10.2022
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Barbaros Altuğ setzte sich für die Rechte von Lesben und Schwulen in der Türkei ein. Sein neuer Roman erzählt von politischer Verfolgung, Verlust der Heimat und einem Neuanfang in Deutschland. Denn auch der Autor floh vor Erdoğan nach Berlin.
Ausländer sind die Figuren in diesem Buch, weil sie nicht mehr in ihrer Heimat leben können: Suna, Tuba und Dunya heißen die drei Frauen aus Istanbul, die im August 2016 über ihre Zukunft nachdenken.
Sie sind bedrückt, die bislang heitere Stimmung am Bosporus ist vorbei. Der – womöglich inszenierte – Putschversuch liegt wenige Wochen zurück. Die drei reden sich zunächst ein, sie würden nur einen kleinen Städtetrip machen, einfach mal raus.
Doch kaum haben sie ein paar Tage in Lissabon verbracht, wird klar, dass sie nicht mehr zurückkönnen. Dunya ist Journalistin, ihre Wohnung wird durchsucht, sie hat ein geheimes Dossier recherchiert. Es droht ihr die Verhaftung.

Exil in Portugal, Indien und Deutschland

Die drei, bislang unzertrennlich, wählen unterschiedliche Orte für ihr Exil. Tuba bleibt in Portugal, wo sie sich gerade neu verliebt hat. Suna zieht es nach Indien, auf eine Art Selbstfindungstrip. Dunya geht nach Berlin.
Auch der Schriftsteller Barbaros Altuğ musste vor sechs Jahren die Türkei verlassen. Er schrieb Artikel für die Tageszeitung „Taraf“, die nach dem Putsch sofort verboten wurde. Er war Literaturagent und engagierte sich für die Rechte von Schwulen und Lesben. Gründe genug, um bei dem Autokraten Erdoğan in Ungnade zu fallen.
Seitdem er in Berlin lebt, hat er einen Roman über die Gezi-Proteste und einen über den Mord an dem armenischen Journalisten Hrant Dink geschrieben.

Liebeskrisen und Identitätsprobleme

In dem neuen Buch „Ausländer“ stecken sicher viele Erfahrungen, die der 1972 geborene Autor seit der Flucht aus der Türkei machen musste. Es ist jedoch alles andere als eine Dokumentation einer Existenz im Exil.
Zwar erzählt Barbaros Altuğ davon, wie ein politischer Umbruch das Leben mit einem Mal radikal verändert. Im Vordergrund stehen jedoch die Träume, Wünsche, Hoffnungen der drei Frauen, ihre Liebeskrisen und Identitätsprobleme. Die Ich-Erzählerin Dunya, so stellt sich am Ende heraus, wurde als Mann geboren.
Der Roman ist in zahlreiche kurze Kapitel gegliedert. Gleich mehrere davon tragen die Überschrift „Heimat“. „Die sprachliche Erinnerung ähnelt der von Geruch: Wenn du ein Wort in dieser Sprache hörst, kehrst du zurück in die Kindheit, an Orte, an denen du dich geborgen fühlst,“ heißt es.
„Und wenn es keinen gibt, mit dem du in der Sprache deiner Kindheit sprechen kannst? Dann führst du entweder Selbstgespräche – oder du schreibst, so wie ich es tue.“

Neue Heimat in der Literatur

Eine neue Heimat findet die Stimme der Erzählerin in der Literatur. Die Coming-Out-Bibel „Giovannis Zimmer“ von James Baldwin und ein Roman des deutschen Schriftstellers Sten Nadolny sind die Folie für Altuğs Buch: „Selim oder Die Gabe der Rede“. Darin trifft ein junger türkischer Gastarbeiter auf einen verschrobenen Bayern in Berlin zu Beginn der 68er-Bewegung.
Barbaros Altuğ knüpft diese literarischen Referenzen äußerst sachte, fast unmerklich in seinen vielschichtigen Text. Er berichtet von verlorenen Beziehungen, aber auch von einst vertrauten Orten, von Cihangir in Istanbul und neu entdeckten Stadtvierteln in Berlin.
Äußerst feinfühlig und eindringlich zeichnet er Gefühle nach und legt Stimmungen in seine Romanfiguren hinein. Seine Sprache kommt den Figuren sehr nah, ohne gefühlig zu werden.

Plastische deutsche Übersetzung

Johannes Neuner hat Altuğs manchmal kühl notierende, dann wieder so viel andeutende Sätze in ein anschauliches Deutsch gebracht. Die Melancholie, die in diesem todtraurigen und dennoch ungebrochen optimistischen Buch steckt, wird sehr plastisch übertragen.
„Ausländer“ ist ein literarisch exzellentes, berührendes und anregendes Buch über den Verlust von Heimat, die Suche nach Freundschaft, Liebe und der (Neu-)Verortung in einem aus der Bahn geworfenen Leben.
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