Aus den Feuilletons

Kritiker wüten gegen Cannes-Juroren

Die Cannes-Jury 2016: der französische Regisseur Arnaud Desplechin, der ungarische Regisseur Laszlo Nemes, die französische Schauspielerin Vanessa Paradis, die iranische Produzentin Katayoon Shahabi, der australische Regisseur George Miller, die italienische Schauspielerin Valeria Golino, US-Schauspielerin Kirsten Dunst, der kanadische Schauspieler Donald Sutherland und der dänische Schauspieler Mads Mikkelsen.
Die Cannes-Jury 2016: Arnaud Desplechin, Laszlo Nemes, Vanessa Paradis, Katayoon Shahabi, George Miller, Valeria Golino, Kirsten Dunst, Donald Sutherland und Mads Mikkelsen. © picture alliance / dpa / Ian Langsdon
Von Paul Stänner · 23.05.2016
Die Gemeinde der internationalen Filmkritiker ist aufgebracht: Die Juroren der Filmfestspiele in Cannes haben den unisono bejubelten deutschen Beitrag "Toni Erdmann" komplett ignoriert. "Völlig unangebracht und unverständlich" findet auch das deutsche Feuilleton diese Entscheidung.
Die Gesellschaft, meine Damen und Herren, ist ratlos. Das ist in der politischen Welt so, und noch mehr in der feuilletonistischen.
In den Zeitungen vom Dienstag herrscht Wut. Die Jury von Cannes, die zum wiederholten Mal den britischen Regisseur Ken Loach ausgezeichnet hat, erntete bei manchen Spott, bei anderen offene Häme. "Bleiben wir doch unter uns" schlägt in der FAZ Verena Lueken sarkastisch dem "Club der alten Männer" vor, zu dem sich Cannes entwickelt habe. Sie beschreibt, dass die Jury nicht nur gegen alle Erwartungen entschieden habe, sondern auch gegen "fast allen Sachverstand".
Die goldene Palme für Ken Loach findet sie "völlig unangebracht". Über den Film von Maren Ade schreibt sie:
"Toni Erdmann blieb bis zum Schluss einer der heißen Favoriten, und dass er nun mit gar nichts nach Hause fährt, ist nicht zu verstehen."
In der Welt ist Hanns-Georg Rodek ratlos: "Hier irrte Cannes" titelt er gleichsam mit erhobenem Zeigefinger. Er glaube nicht, dass die Jury etwas übersehen habe. Das sei, schreibt er:
"Eine bewusste Entscheidung. Die Jury wollte nicht. Absolut nicht. Es gibt bei Jurys manchmal eine gewisse Widerspenstigkeit: Wenn alle von uns erwarten, dass wir etwas tun, dann tun wir es erst recht nicht."
Die trotzige Jury ließ Rodek verwirrt zurück:
"Irgendwie hatten die meisten Fachbesucher am Ende den Eindruck, einem anderen Festival beigewohnt zu haben als dessen Jury."

Ungefähr dreimal im Jahr gibt es Ärger

Das sei aber kein außergewöhnliches Phänomen, meint David Steinitz in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG. Nach seiner Erfahrung würden Filmkritiker ungefähr drei Mal im Jahr, nämlich auf den Festivals von Berlin, Cannes und Venedig, empört reagieren, wenn die Jury anders entscheide als die Kritiker. Diesmal aber sei ein "kollektiver Kritikerwutanfall" über die Jury hereingebrochen.
Aber trotz der falschen Entscheidung hat Steinitz Hoffnung:
"Eine deutsche Komödie gilt vielen internationalen Filmexperten ohnehin als dermaßen erstaunliches Paradoxon, dass 'Toni Erdmann' auch ohne Palme für Maren Ade in etwa so werbewirksam fürs germanische Kino sein dürfte wie die WM 2006 für den deutschen Fußball."

Ratlosigkeit und Zukunftssorge im Theater

Man könnte anmerken, dass, wenn schon diese Adjektive, dann doch eher ein Fußballspiel an die alten Germanen erinnere, während Maren Ades Komödie wohl einfach nur deutsch sei, aber wir wollen nicht kleinlich sein in einer Welt, die so verwirrt ist wie jetzt eben. Das wollen Sie erklärt haben? Kommt:
In der Neuen Zürcher Zeitung zieht Dirk Pilz das Resümee des Berliner Theatertreffens. Das habe sich nämlich als Bühne für die Kernfrage des Theaters erwiesen. Die da lautet: "Was heißt und zu welchem Ende betreiben wir darstellendes Spiel." Gute Frage – abschließende Antworten seien nicht zuwarten, sagt Pilz, aber "dass diese Frage derart grundsätzlich gestellt wird, verweist darauf, dass es den Theatern wie der Gesellschaft generell geht: Es herrscht viel Ratlosigkeit, viel Zukunftssorge". Das müsse aber nicht schlecht sein, meint Pilz, denn so eröffneten sich neue Räume und Wege.

Klassik an skurrilen Orten

Neue Räume und Wege für die ratlose Gesellschaft hat auch Daniel Libeskind gefunden. Zwei Tage lang ließ er in Frankfurt am Main Musik an ungewöhnlichen Orten aufführen. Zum Beispiel Mozarts Requiem in einem Straßenbahn-Betriebshof. Gerhard Koch in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG ist begeistert:
"Zwar hörte man ab und an die Züge lärmen, doch tat dies der Konzentration keinen Abbruch; ja durch die Anti-Festlichkeit des Ortes verschwand jede falsche Aura."
Tja, und die richtige womöglich auch.
Beethovens Klaviersonate As-Dur wurde in einem Boxcamp gespielt, anderes erklang im Operationssaal. "Man hört was man sieht.", hat Koch erkannt und das hat ihn fast in revolutionäre Wallungen gebracht, denn Libeskinds Darbietungen an ungewöhnlichen Orten "weckte auch Skepsis gegenüber dem Glauben an die allein seligmachende Macht spätromantisch kunstreligiöser Hochämter in den Kathedralen des E-Musik-Betriebs."
Wenn schon die FAZ zu so kühnen Schlüssen kommt, muss die Gesellschaft wirklich ratlos sein.
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