Aus den Feuilletons

Gewalt als attraktive Lebensform?

Ein junger Mann hebt seine geballte Faust
Kein Opfer der Umstände: Gewalttäter handeln selbstbestimmt, sagt Jan Philipp Reemtsma © dpa / picture alliance / Karl-Josef Hildenbrand
Von Tobias Wenzel · 08.06.2015
Mit einer fulminanten Rede hat Jan Philipp Reemtsma sein Amt als Chef des Hamburger Instituts für Sozialforschung beendet, erfahren wir aus der "Welt". Darin erklärt er, dass Gewalttäter nicht Opfer der Umstände seien.
"Warum zieht ein Kölner Rapper in den Irak und tötet als Dschihadist vor laufender Webcam Menschen?", fragt Thomas Schmid in der WELT.
"Warum brennen in französischen Vorstädten Autos?"
Schmid fragt das allerdings nicht im luftleeren Raum. Jan Philipp Reemtsma, der bei seiner Entführung 1996 selbst Opfer von Gewalt wurde, hat nämlich als scheidender Chef des Hamburger Instituts für Sozialforschung ebendort seinen Abschiedsvortrag gehalten. Und dieser Vortrag mit dem Titel "Gewalt als attraktive Lebensform betrachtet" hatte es in sich, wenn man Thomas Schmid glauben darf.
Die "Versuchung durch Grenzenlosigkeit" erscheint den Menschen, so Reemtsma, als attraktiv. Die Erlaubnis zu töten, die das bürgerliche Leben nicht vorsehe, werde als "die Selbstermächtigung zum großen 'Du darfst!'" empfunden.
Nun aber die entscheidende Deutung von WELT-Autor Thomas Schmid: Reemtsma habe in dem Vortrag Gewalt eben nicht, wie bei Soziologen üblich, "als Folge irgendwelcher sozialen Umstände" erklärt, sondern "als selbstgewählt, selbstbestimmt" beschrieben. "Das ist, erst recht an diesem Ort, eine ziemliche Provokation", kommentiert Schmid. Denn Reemtsma bestreite damit, dass das Bemühen der Soziologen, gesellschaftliche Phänomene zu erklären, überhaupt sinnvoll sei. In Schmids Worten:
"Für die Sozialforschung und für sein mehr als 30 Jahre altes Institut heißt das eigentlich: alles wieder auf Anfang zu setzen".
Wird Google einen eigenen Staat gründen?
Einige würden Google gerne wieder auf Anfang setzen. So mächtig ist der Internetkonzern geworden, dass es langsam unheimlich wird. "Könnte Google auch ein Staat werden?", fragt Adrian Lobe in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG.
"Die Vorstellung ist beklemmend. Doch so verwegen ist die Utopie nicht."
Dann zitiert er den Investor Tim Draper mit den Worten:
"Ich würde einen Google-Staat sehr begrüßen."
Dem US-amerikanischen Rechtswissenschaftler Frank Pasquale wird allerdings ganz anders bei dem Gedanken, Google könne ein Staat werden. Er fühlt sich da an "Hegels Herr-Knecht-Dialektik" erinnert. Soll heißen: Wir glauben, wir seien die Herren und Google diene uns. Aber der vermeintliche Diener wird mächtiger und mächtiger und macht uns selbst irgendwann zu seinem Sklaven. Schließlich beruhigt uns der FAZ-Autor doch noch ein wenig:
"Google wird gewiss keinen Staat gründen."
Aber:
"Ohne Google ist kein Staat zu machen."
Wenn Kunst Leben rettet
1992 brauchte man nur die Kunst, um einen neuen Staat zu machen. Daran erinnert Polona Balantic in der TAZ. Damals, während des jugoslawischen Bürgerkriegs, kämpften die Menschen des belagerten Sarajevos für den eigenen Staat Bosnien und Herzegowina. Da der aber kaum anerkannt wurde, fehlten ihnen die Dokumente, um ausreisen zu können. Da hatte das Künstlerkollektiv Neue Slowenische Kunst, kurz NSK, eine Idee: Die Mitglieder riefen einfach den fiktiven NSK-Staat aus und ließen NSK-Reisepässe drucken. Die Pässe wurden dann den Menschen in Sarajevo geschickt.
"Es mag unglaubwürdig klingen, aber tatsächlich ist es während der fast vierjährigen Belagerung einigen Menschen gelungen, mit einem solchen Pass den Kessel zu verlassen", schreibt Polona Balantic. Bis heute besäßen 14.000 Menschen diesen Pass und seien Bürger des imaginierten Staates. Allerdings würden Grenzbeamte heute kaum noch auf den Pass hereinfallen.
Als 2007 über 2.000 Nigerianer voller Hoffnung den Pass beantragen wollten, habe das Auswärtige Amt Sloweniens folgende Sätze auf seiner Internetseite veröffentlicht:
"Der NSK-Reisepass ist kein offizieller slowenischer Reisepass."
Und:
"Der Besitz eines NSK-Reisepasses gestattet keinen Eintritt in den Schengenraum."
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