Aurora Venturini: "Die Cousinen"

Kunst als Zufluchtsort

05:52 Minuten
Fotocollage einer jungen Frau, in deren Kopf eine Blume steckt.
© dtv

Aurora Venturini

Johanna Schwering

Die Cousinendtv, München 2022

192 Seiten

18,99 Euro

Von Dina Netz · 13.01.2023
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In der Familie herrscht Kälte, Bitterkeit und Brutalität: Yunas Ausweg ist die Malerei. Hier entfaltet sich ihr Talent. Die argentinische Autorin Aurora Venturini erzählt klug und exzentrisch von den Chancen, die Sprache und Kunst bieten können.
Mit "Die Cousinen" gelang Aurora Venturini 2007 in Argentinien der literarische Durchbruch, da war die Autorin 85 Jahre alt. Schon allein diese Geschichte ist erzählenswert. Und auch ihr kurzer Roman ist ungewöhnlich, wovon wir deutschen Leserinnen und Leser uns nun endlich dank der zupackenden Übersetzung von Johanna Schwering überzeugen können.

Liebloses Familienleben

Yuna ist die Ich-Erzählerin von "Die Cousinen". Gleich im ersten Satz schreibt sie über ihre Mutter: Sie war "eine Grundschullehrerin mit Rohrstock und weißem Kittel und sehr streng". Damit ist die Atmosphäre gesetzt. In diesem Frauenhaushalt im argentinischen La Plata der 1940er-Jahre geht es lieblos zu.
Der Vater hat sich abgesetzt, das Geld ist knapp, Yunas schwerbehinderte Schwester Betina wird mehr schlecht als recht versorgt. Yunas chronische Erkältung wird umgedeutet als Versuch, auf sich aufmerksam zu machen. Sie gilt als "minderbemittelt", weil sie beim Sprechen schnell ins Stottern gerät. "Wir waren nicht gewöhnlich, um nicht zu sagen, nicht normal", konstatiert die Ich-Erzählerin.

Makel der Menschheit

Yuna kämpft sich durch den feindlichen Alltag, findet aber einen Zufluchtsort: die Malerei. Sie besucht einen Mal- und Zeichenkurs an der Kunsthochschule. Ein Professor bemerkt ihr Talent, bringt ihre Bilder in einer Ausstellung unter. Wie alle Männer in diesem kurzen, bösen Roman ist auch der Professor, dessen Unterstützung für Yuna wegweisend sein wird, letztlich ein gewalttätiger Lüstling.
Doch auch die Frauen sind keine Engel. Alle tragen irgendeinen Makel (Schwachsinnigkeit, Kleinwuchs...) und müssen in dieser von männlicher Brutalität geprägten Atmosphäre durchkommen. Aurora Venturini erzählt in einem ganz eigentümlichen Tonfall zwischen Bitterkeit und schwarzem Humor von "seltsamen und ungeheuerlichen" Cousinen (und Tanten), denen Männer übel zusetzen, die sich aber gegenseitig auch nichts schenken. Jede ist sich in dieser bigotten und prüden Familie selbst die Nächste.

Ohne Punkt und Komma

Die Schriftstellerin Mariana Enriquez saß 2007 in der Jury, die Aurora Venturini den Premio Nueva Novela verlieh. Sie betont im Nachwort die "Risikobereitschaft und Exzentrizität" des Textes. Diese Würdigung zielt nicht nur auf den Inhalt, sondern auch auf den Stil.
Yuna schreibt ihre Erinnerungen beinahe ohne Punkt und Komma auf, denn bei Satzzeichen verliert sie den Faden – mündlich wie schriftlich. Doch Yuna ist, obwohl "Abkömmling einer verkommenen und zersetzen Sippe", klug und witzig. Sie erarbeitet sich eine gewisse Redegewandtheit, erschließt sich mit Hilfe eines Wörterbuches einen größeren Wortschatz und schafft es schließlich sogar, Schülerinnen und Schüler an der Kunsthochschule zu unterrichten.
Aurora Venturini, die 2015 starb und nun endlich auch auf Deutsch zu entdecken ist, erzählt also nicht nur eine grausam schräge Coming-of-Age-Geschichte, sondern auch davon, dass Sprache und Kunst Wege weisen können aus den düstersten Tunneln.

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