César Aira: „Das Abendessen“

Bekenntnisse eines Muttersöhnchens

06:35 Minuten
Cover des Buchs „Das Abendessen“ von César Aira.
© Matthes & Seitz

César Aira

Aus dem Spanischen von Christian Hansen

Das AbendessenMatthes & Seitz, Berlin 2022

127 Seiten

18,00 Euro

Von Dirk Fuhrig · 10.06.2022
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Horror-Trip in der argentinischen Provinz: César Aira erzählt in „Das Abendessen“ von einem alternden Versager. Dessen Leben ist schrecklich eintönig - bis eines Abends durstige Untote ihre Grabdeckel öffnen und auf die Jagd gehen.
César Airas Geschichten spielen fast immer im Zwischenreich von Fantasie und Wirklichkeit. Der Alltag seiner Figuren wird urplötzlich durch ein seltsames, unerwartetes Ereignis durchbrochen.

Ein Versager erzählt

In der Novelle „Das Abendessen“ wird der Protagonist aus der Gleichförmigkeit einer Durchschnittsexistenz gerissen. Die Handlung spielt in Pringles, einer Kleinstadt rund 500 Kilometer südwestlich von Buenos Aires. Dort, inmitten der argentinischen Pampa, wurde 1949 auch der Schriftsteller César Aira geboren. Anders als der Autor, der als erfolgreicher Kaffeehausliterat in Argentiniens Hauptstadt lebt, ist der Ich-Erzähler ein in die Jahre gekommener Versager: gesellschaftlich, beruflich, finanziell.
Weil ohne Einkommen, ist er wieder zu seiner Mutter gezogen: „Die Untätigkeit, das Bewusstsein meines Scheiterns, das anachronistische Verhältnis eines sechzigjährigen Mannes mit seiner Mutter, das inzwischen unabänderliche Junggesellendasein hatten mich in diese für tote Tage typische Melancholie gestürzt.“

Die Mutter tratscht

Die Mutter nervt ihn mit ihrer ewigen Quasselei über Gott und die Welt und die Nachbarschaft. Sie konjugiert tagein, tagaus die Namen und verwandtschaftlichen Zusammenhänge der alteingesessenen Familien und Clans in dieser ländlichen Region durch. Der Sohn hingegen bringt keinerlei Interesse für seine Mitbürger auf: "Vielleicht war das der Grund, warum es mir mit meinen Geschäften so schlecht ergangen war. Jemand, der nicht wusste, wie sein Nachbar hieß, den er jeden Tag sah, konnte kein Vertrauen wecken."
Es ist herrlich, wie genau, spöttisch und doch liebevoll César Aira diesen Provinz-Kosmos skizziert. Diese Mutter, die alles über alle weiß und zu jedem Thema eine entschiedene Meinung hat, könnte überall auf der Welt zu Hause sein.

Die Untoten schlürfen Endorphine

Nach einem Abendessen bei einem langjährigen Freund des Protagonisten, dessen kulinarische Qualitäten von der strengen Mama auf dem Nachhauseweg vernichtend rezensiert werden, setzt sich der in Selbstmitleid erstickende Erzähler erschöpft vor den Fernseher. Im Lokal-Programm läuft eine Live-Übertragung aus den Straßen von Pringles. Während er dahindämmert, entspinnt sich Unerhörtes: Als die Reporter beim städtischen Friedhof ankommen, heben sich die steinernen Grabplatten, und aus den Grüften entsteigen Generationen von Toten. Die machen sich über die Stadt und ihre Bürger her.
Süchtig nach Endorphinen, die sie aus den Hirnen der Lebenden schlürfen, richten sie ein Massaker an. Der Horror-Trip endet erst in dem Moment, als jemand einen der von den Toten Auferstandenen als ehemaligen Mitbürger erkennt und mit Namen anspricht. Damit ist der Bann gebrochen und der Spuk vorüber.

Rasend komisch und selbstironisch

Dieses groteske Märchen aus der Fantasy-Welt wird von César Aira mit süffisanter Leichtigkeit erzählt. Einerseits ist es eine Persiflage auf Videospiele und Horror-Filme. Andererseits eine Metapher für das ewige Rad des Lebens, das Weiterleben über Generationen hinweg in Erinnerung der Namen.
Vor allem aber lebt auch diese skurrile Geschichte von der sprachlichen Kraft des argentinischen Schriftstellers, der seine immer leicht neben sich stehenden Figuren so rasend komisch und selbstironisch komponiert. So auch diesen verzweifelt-melancholischen Einzelgänger, dem es genau an dem mangelt, was die Untoten gesucht haben: einen Schuss Endorphine, um gegen Trägheit und Lebenstaubheit anzukämpfen.

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