Französische Autorin

Annie Ernaux erhält den Literaturnobelpreis

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Porträt von Annie Ernaux in Turin im Mai 2022. Sie blickt aufmerksam in die Kamera. Im Hintergrund sind Pflanzen zu sehen.
Annie Ernaux erhält den Nobelpreis für Literatur 2022. © Leonardo Cendamo / Getty Images
Dorothea Westphal, Dirk Fuhrig und Daniela Dröscher im Gespräch · 06.10.2022
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Der Literaturnobelpreis 2022 geht an die 1940 geborene französische Schriftstellerin Annie Ernaux. Ihre "Autofiktion" ist inzwischen auch in Deutschland bekannt, darunter die Romane "Die Jahre" und "Eine Frau". Ihr Erfolg hierzulande kam über Umwege.
Annie Ernaux bekommt den Literaturnobelpreis "für den Mut und die klinische Schärfe, mit der sie die Wurzeln, Entfremdungen und kollektiven Beschränkungen der persönlichen Erinnerung aufdeckt", sagte der Ständige Sekretär der Akademie, Mats Malm, bei der Preisbekanntgabe am Donnerstag in Stockholm.
Ernaux gilt als eine der bedeutendsten französischen Schriftstellerinnen der Gegenwart, ihr Werk ist stark autobiografisch geprägt. Sie war schon seit vielen Jahren als Anwärterin auf den Nobelpreis gehandelt worden. Sie hat rund 20 literarische Werke verfasst, ins Deutsche übersetzt wurden unter anderem "Eine Frau", "Die Scham" und "Erinnerung eines Mädchens". In ihrem Werk seziert Ernaux die Erfahrungen von Mädchen und Frauen in der französischen Gesellschaft seit Ende des Zweiten Weltkriegs.
"Eine sehr große Ehre" werde ihr mit dem Nobelpreis bereitet, sagte Annie Ernaux in ihrer ersten Reaktion auf die Nachricht der Schwedischen Akademie laut der Tageszeitung "Le Monde", die das schwedische Fernsehen SVT zitiert. Für sie sei damit eine Verantwortung verbunden, "gegenüber der Welt eine bestimmte Form der Richtigkeit und der Gerechtigkeit zu bezeugen".

Die Urmutter der Autofiktion

Annie Ernaux sei eine sehr interessante Schriftstellerin, sagt die Literaturkritikerin Dorothea Westphal. Sie habe eine besondere Literatur geprägt, sei die "Urmutter der Autofiktion". Das Private bekomme durch ihr Schreiben etwas Allgemeingültiges: "Sie hat ihre persönliche Entwicklung beschrieben, auch in ihren Erinnerungen an ihren Vater, an ihre Mutter, an ihre eigene Jugend und Kindheit. Man bekommt einen Blick auf das gesellschaftliche und politische Panorama Frankreichs."

Die Kluft zwischen mir und meinen Eltern hat sich an Dingen wie dem Geschmack und dem Stile gezeigt, aber vor allem in der Ausdrucksweise. Denn in der Sprache wird die Klassenzugehörigkeit am deutlichsten; über die Deklassierung durch die Art zu sprechen könnte ich ihn stundenlang etwas erzählen. Als ich anfing, als Lehrerin am Gymnasium zu unterrichten, musste ich mir eine andere Sprache angewöhne. Lange Zeit fühlte ich mich so, als wäre ich gar nicht ich selbst.

Annie Ernaux im Gespräch mit Dirk Fuhrig

Ernaux komme aus sehr einfachen Verhältnissen und in ihrer Literatur spiele die Klassenfrage eine große Rolle – "das ist ja in Frankreich ein sehr großes Thema", sagt Westphal.
Jüngere Schriftsteller wie Edourd Louis und Didier Eribon bezeichnen sie deshalb als ihre "Meisterin", berichtet die Literaturkritikerin.

Erfolg in Deutschland über Umweg

In Deutschland ist Ernaux erst in den letzten Jahren breiteren Kreisen bekannt geworden, wie Literaturkritiker Dirk Fuhrig feststellt. Dass ihre Texte dann doch erstmals ins Deutsche übersetzt worden seien, habe mit den Erfolgen des Soziologen Eribon und von Louis hierzulande zu tun.
"Die drei bilden eine Art Gruppe in Frankreich", sagt Fuhrig mit Blick auf Ernaux, Eribon und Louis: "Zumindest beziehen sich die beiden jüngeren Schriftsteller sehr, sehr stark auf Annie Ernaux. Sie ist eine Art Idol für sie – und auch für viele andere Schriftstellerinnen und Schriftsteller, gerade auch in Deutschland."

Einfache Leute und Alltag erzählenswert

Daniela Dröscher ist eine der deutschsprachigen Schriftstellerinnen, für die Ernaux wichtig ist: Sie habe sich sehr gefreut, als ihr Buch "Lügen über meine Mutter" mit dem Werk der Französin verglichen worden sei, bekennt Dröscher im Deutschlandfunk. "Annie Ernaux ist ein großes Vorbild. Es gibt vielleicht keine noch lebende Schriftstellerin, die mich so sehr geprägt und auch verwandelt hat", sagt die 45-Jährige.
Daniela Dröscher, Autorin, steht auf einem Balkon. Die Mittvierzigerin trägt einen hellen Blazer und ein quergestreiftes Oberteil in Rot und Weiß darunter. Sie hat die Haare hochgesteckt, ihre Hände stecken in den Blazertaschen, sie lächelt in die Kamera.
Daniela Dröscher bewundert Annie Ernaux: Vielleicht habe sie keine noch lebende Autorin so geprägt wie die Französin, sagt die 45-Jährige:© picture alliance / dpa / Georg Wendt
Ernaux schreibe über sogenannte einfache Leute und erzähle alltägliche Dinge, mache sich selbst dabei zum Gegenstand und dechiffriere daran große gesellschaftliche Strukturen, erklärt Dröscher. "Ich glaube, das Bewusstsein dafür, dass diese Stoffe und Geschichten erzählt werden müssen und können, hat sie uns auch hierzulande sehr eindrücklich vor Augen gehalten."
Das Ich-Sagen, das Ernaux vormache, sei für viele Autorinnen und Autoren nicht selbstverständlich gewesen, vermutet Dröscher. Es seien häufig marginalisierte Menschen, die diese Form für sich entdeckten und nutzten, um ihre Subjektivität in einen größeren Zusammenhang zu stellen.

Analyse und Emotion

Dröscher hebt an den Texten von Ernaux hervor, ihre Texte seien ein Grenzgang zwischen Literatur und Soziologie.

Das sind hochgradig analytische Texte, die aber auch ganz große Gefühle mitverhandeln: Scham, Ohnmacht, Wut, Verrat – all diese Gefühle kommen vor, werden spürbar. Ich glaube, auch deshalb erreicht sie so ein großes Publikum. Die werden aber zugleich analysiert. Ich glaube, diese Mischung aus Analyse und Emotion und eben diesem unbeirrten soziologischen Blick, der die Gesellschaft verstehen und verändern will – ich glaube, das macht sie aus.

Autorin Daniela Dröscher über Annie Ernaux

Fuhrig sagt, die 82-Jährige habe das Einbringen der eigenen Person in ein literarisches Kunstwerk als eine der ersten perfektioniert. "Sie steht dafür, dass sie sich oder die eigene Autorenpersönlichkeit zum Thema der Literatur gemacht hat."
Dabei habe sie sich aber immer dagegen gewehrt, dass sie eine Autobiografie schreiben würde.

Politik bei Annie Ernaux

Ihre Arbeiten bestächen zugleich durch eine sehr kunstvolle Sprache, sodass es sehr, sehr starke Literatur sei, urteilt Fuhrig. "Das Leben ist zur Literatur geworden."
"Soziale Fragen sind sehr, sehr wichtig", hebt der Kritiker hervor. Insofern sei Ernaux' Literatur auch politisch. "Sie ist unbedingt eine politische Autorin, denn alles, was sie schreibt, hat auch eine gesellschaftspolitische Dimension", hebt Dirk Fuhrig hervor.
Zudem sei Ernaux politisch aktiv: "Sie ist auch bekannt dafür, dass sie die Bewegung der Gelbwesten unterstützt hat", ruft Fuhrig in Erinnerung. "Sie ist auch im französischen politischen Spektrum sehr links orientiert; unterstützt oder hat zumindest eine Zeit lang Jean-Luc Mélenchon unterstützt, den Linkspopulisten."

Als 17. Frau in 120 Jahren ausgezeichnet

Dotiert ist der Preis in diesem Jahr mit zehn Millionen Schwedischen Kronen (920.000 Euro). Von 1901 bis 2021 wurden 114 Literaturnobelpreise an 118 Personen vergeben, davon waren nur 16 Frauen. Im vergangenen Jahr hatte der tansanische Schriftsteller Abdulrazak Gurnah die Auszeichnung erhalten.
Bereits zum 17. Mal geht die Auszeichnung nach Frankreich. Den ersten Literaturnobelpreis bekam 1901 der französische Dichter Sully Prudhomme. 13 Mal wurden deutschsprachige Autoren ausgezeichnet, darunter Thomas Mann (1929), Heinrich Böll (1972), Günter Grass (1999), Herta Müller (2009) und zuletzt Peter Handke (2019).
(mit dpa, KNA, AFP)
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