Annie Ernaux: "Erinnerung eines Mädchens"

Geschichte einer lebenslangen Scham

Das Cover von Annie Ernauxs Buch "Erinnerung eines Mädchens", mit einem Porträt der Autorin als junge Frau. Im Hintergrund ist eine Frau zu sehen, die vor einem Kornfeld steht.
In diesem Buch erzählt die 78-jährige "Ethnologin ihrer selbst" ihre ureigene Geschichte, ohne ein einziges Mal "Ich" zu sagen. © Suhrkamp / Unsplash / Nadine Shaabana
Von Edelgard Abenstein · 29.10.2018
Als junge Frau wird Annie Arnaux in einem Ferienlager von einem Betreuer vergewaltigt. Trotzdem verliebt sie sich in ihn und ist dem Sadisten hilflos ausgeliefert. Warum? Als 78-Jährige erforscht die Schriftstellerin einen vergangenen Seelenzustand.
Manche kaschieren die autobiografischen Anteile ihrer Literatur. Nicht so die französische Autorin Annie Ernaux, die ihr gesamtes Werk aus über zwanzig Romanen zu einem Selbsterkundungsprojekt erklärt. Ohne Weichzeichner, ohne Tremolo des "wie-schrecklich schön-war-die-Zeit". In "Die Jahre" konnte man zum ersten Mal auf Deutsch die unverwechselbare Methode studieren, mit der die 78-jährige "Ethnologin ihrer selbst" ihre ureigene Geschichte erzählt, ohne ein einziges Mal "Ich" zu sagen.

Eine Gymnasiastin träumt von der Liebe

Mit "Erinnerung eines Mädchens" verfeinert Ernaux dieses Verfahren und radikalisiert es zugleich, indem sie eine Szene ins Zentrum stellt, die sie niemals loslassen wird: Im Sommer 1958 fährt die Gymnasiastin Annie, die damals noch Duchesne heißt, in ein Ferienlager, in dem sie als Betreuerin arbeitet. Es ist das erste Mal, dass das wohlbehütete Einzelkind ohne seine Eltern, die einen kleinen Lebensmittelladen in der Provinz betreiben, unterwegs ist. Streng katholisch erzogen, hat das Mädchen fest vor, ein Abenteuer zu erleben. Ein Liebesabenteuer, wie sie es aus der Literatur kennt, oder aus Schlagern von Dalida.

Verliebt in den Vergewaltiger

Als einer der älteren Betreuer, der aussieht wie Marlon Brando, auf einer Party ein Auge auf sie wirft, kann sie ihr Glück nicht fassen. Sie folgt ihm in ein Zimmer, in dem er sie brutal vergewaltigt. Hilf- und ahnungslos liefert sie sich aus, sie wehrt sich nicht. Und sie verliebt sich in diesen Mann, der schnell das Interesse an ihr verliert, sie demütigt, sich lustig macht über sie.
Fünfzig Jahre danach: Wie von diesem Trauma erzählen? Als einzeln erlebter Skandal? Wie im Vorgängerbuch "Die Jahre" schildert Ernaux eigene Erfahrungen als etwas, das eine ganze Generation bestimmte. Aber anders als dort, wo sie konsequent auf ein Erzähler-Ich verzichtet, gibt es hier ein schreibendes Ich. Das kommt selbstreflexiv, als gegenwärtige Instanz ins Spiel, wenn sie über Briefen, die sie damals an eine Freundin schrieb, grübelt, einem Tagebuch, wenn sie Fotos betrachtet, auf denen sie Brigitte Bardot mimt.

Sie ist längst eine Andere geworden

Gut genug weiß Ernaux, dass das Nachdenken über das damalige Ich eine Illusion ist. Denn wäre sie jenes Ich, müsste sie, was sie längst vergessen hat, eine Gleichung zweiten Grades lösen können, Illustriertenromane verschlingen und noch nie Simone de Beauvoir gelesen haben. Genau wie das Mädchen von 1958, das folgerichtig nicht als Subjekt auftritt, sondern in der distanzierenden dritten Person, als "sie".

Rekonstruktion eines vergangenen Seelenzustands

Wie eine Naturforscherin legt Ernaux Schicht um Schicht frei, wohl wissend, dass sie den Seelenzustand eines Mädchens aus der Zeit, als Begehren und Verbot untrennbar zusammengehörten, nie ganz hinreichend zu rekonstruieren vermag, heute, da die "ungeheure Kraft" solcher Redewendungen wie "seine Jungfräulichkeit verlieren" den meisten abhanden gekommen ist.
"Schön" ist die Geschichte um eine lebenslange Scham nicht erzählt, ihre Sprache ist nüchtern, fast bilderlos, wuchtig, ohne Schlacken und hart. Ganz so, wie man schreibt, wenn nichts mehr zu verlieren ist.

Annie Ernaux: Erinnerung eines Mädchens
Aus dem Französischen von Sonja Finck
Berlin 2018, Suhrkamp-Verlag
163 Seiten, 20 Euro

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