Anna Goldenberg hat über ihren geretteten Großvater geschrieben

"Man wollte uns vertreiben, aber ich bin jetzt hier"

Die Autorin Anna Goldenberg
Anna Goldenberg: "Mein Großvater war sowohl ein typisches wie auch ein untypisches U-Boot." © www.corn.at / Deuticke
Anna Goldenberg im Gespräch mit Joachim Scholl |
Anna Goldenbergs Großvater überlebte die NS-Zeit in Wien – weil ein Schularzt ihn aufnahm. Nun hat sich die Enkelin daran gemacht, sein Überleben zu ergründen. Den Anstoß gab ein Aufenthalt in den USA.
Joachim Scholl: Anna Goldenberg ist Jahrgang 1989, eine Journalistin aus Österreich, und vielleicht hätte sie sich für ihre Familiengeschichte gar nicht so sonderlich interessiert, wenn sie nicht selbst weggegangen, in den USA gelebt und dort studiert hätte. Aber dort in der Fremde wurde sie konfrontiert mit ihrer Biografie, zu der auch ihr Großvater gehörte, der als Jude in Wien überlebt hat, versteckt von einem Arzt, drei Jahre lang unter Lebensgefahr für beide. Darüber hat Anna Goldenberg jetzt ihr erstes Buch geschrieben, und sie ist uns jetzt aus einem Studio in Wien zugeschaltet. Willkommen, ich grüße Sie, Frau Goldenberg!
Anna Goldenberg: Guten Morgen!
Scholl: Wie war das in den USA, Frau Goldenberg? Gleich zu Beginn erzählen Sie von einem Groll, einem Ärger, der Sie plötzlich angestiftet hätte, Ihre Familienbiografie und speziell die vom geretteten Großvater zu recherchieren. Was ist da geschehen? Was hat Sie so aufgeregt?

Unverständnis angesichts einer Jüdin aus Österreich

Goldenberg: Dieses Unverständnis der Leute, dass es so etwas geben kann wie eine Jüdin aus Österreich. Das hat mich geärgert, wobei ich nicht genau weiß, ob es wirklich im Nachhinein gerechtfertigt war. Aber es gab dann einfach so Situationen, zum Beispiel war ich bei einer Grillparty auf einer Dachterrasse in Brooklyn, spät abends bei einem Bier. Und dann spricht mich jemand an und fragt mich eben, wer ich so bin. Und dann stehe ich da und muss erzählen oder darf erzählen, wie meine Großeltern überlebt haben. Und das war so eine bizarre Situation, dass ich mir gedacht habe, da gibt es so ein Bedürfnis, diese Geschichte zu erzählen.
Scholl: Das heißt sozusagen, das Unverständnis darüber, dass also eine, dass man als Jüdin in Österreich überhaupt leben konnte und nicht weggegangen sei?
Goldenberg: Genau.
Scholl: Wie sind Sie dann vorgegangen? Wie haben Sie begonnen? Man fragt ja vermutlich vielleicht auch erst mal in der Familie so, aber wie waren die ersten Schritte?
Goldenberg: Viele der Geschichten kannte ich schon, also auch von meinem Großvater. Der ist 1996 gestorben, da war ich sieben Jahre alt, aber es wurde immer darüber geredet, über den Peppi, der ihn gerettet hat und später adoptiert hatte, über seine Familie, die umgekommen ist, und auch über die Geschichte meiner Großmutter, die in Theresienstadt war und die noch lebt. Und dann bin ich einmal so vorgegangen, dass ich angefangen habe, mit meiner Großmutter mehr darüber zu sprechen. Ich bin dann auch nach Poughkeepsie gereist, das ist ein Ort im Bundesstaat New York, in dem meine Großeltern ein Jahr lang gelebt haben nach dem Krieg, weil sie versucht haben, auszuwandern, oder sich ansehen wollten, wie es ihnen in den USA gefallen wird. Und ich habe mir gedacht, jetzt will ich mal wissen, warum sie eigentlich nicht dort geblieben sind. Und so bin ich dann immer weiter vorgedrungen. Dann hat mir meine Mutter die Aufzeichnungen von meinem Großvater geschickt, die er Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre angefertigt hat, wo er versucht hat, seine Erlebnisse zusammenzufassen. Dann bin ich in Archive gegangen, habe nachgelesen, versucht, noch andere Überlebende zu finden, von denen es wirklich kaum mehr welche gab. Und so hat sich das irgendwann zu einem Buch zusammengefügt.

Der Retter war Schularzt

Scholl: Kommen wir mal zu dieser glücklichen Fügung, dass Ihr Großvater diesen Retter fand. Wie ging das zu?
Goldenberg: Also höchstwahrscheinlich, zu 100 Prozent weiß ich es nicht, weil es lebt niemand mehr, der es mir wirklich erzählen kann, hat er den Peppi, also den Josef Feldner, kennengelernt als Gymnasiast. Weil Peppi hat als Schularzt gearbeitet an einer Schule, die mein Großvater auch ein Jahr lang besucht hat. Und mein Großvater hat dann die Schule gewechselt – er war ein sehr schlechter Schüler –, und Peppi ist mit ihm dann vermutlich in Kontakt geblieben, was zu seiner Arbeitsweise passen würde, weil der hat Kinder sehr gern lange beobachtet in ihrer Entwicklung und hat zeitweise Notizen gemacht und ist ihnen gefolgt, überall hin.
Scholl: Warum hat mich dieser Mann gerettet, hat sich Ihr Großvater ein Leben lang gefragt und nie eine rechte Antwort drauf gehabt. Haben Sie eine gefunden?
Goldenberg: Nicht so wirklich. Und ich würde das ja sehr gern mit ihm diskutieren, aber das kann ich leider nicht mehr.
Scholl: Sie schildern auf jeden Fall dieses Leben, diese drei Jahre, wo der Großvater, der Hansi, beim Peppi, bei dem Josef Feldner also gelebt hat, ja, es ist doch wie ein Krimi oder wie ein spannender Roman, bei dem einem das Herz immer so im Halse schlägt, und man weiß, dass es gut ausgeht, aber es war ja wirklich unglaublich riskant für beide. Wie muss man sich denn dieses Leben als U-Boot – das ist Ihr Begriff oder der Begriff, den man für diese versteckten Juden gefunden hat – wie muss man sich dieses Leben vorstellen?

Ein untypisches U-Boot

Goldenberg: Mein Großvater war sowohl ein typisches wie auch ein untypisches U-Boot. Typisch daran war, dass er eigentlich nicht, wie man sich das immer vorstellt, von der Geschichte der Anne Frank, die in einem Hinterhaus jahrelang versteckt war und nicht rausgekommen ist, dass er sich sehr wohl frei bewegt hat. Die sind ins Gasthaus gegangen, er war in der Leihbibliothek, er war in der Oper. Das war eigentlich normal unter Anführungszeichen für U-Boote. Was nicht normal war, ist, dass er diesen geregelten Alltag zweieinhalb Jahre lang am selben Ort hatte. Die meisten Überlebendenschicksale, von denen man weiß, und das sind wirklich nicht sehr viele, da mussten die Leute wahnsinnig oft den Wohnort wechseln, weil es zu gefährlich geworden ist. Und da hatte mein Großvater noch ein zusätzliches Glück, dass da niemand drauf gekommen ist und er diesen relativ geregelten Alltag haben konnte.
Scholl: Aber manchmal war es schon ganz dramatisch, wenn da eine Kontrolle kam. Und einmal gab es sogar einen Schusswechsel mit einem Revolver, den der Peppi besorgt hat.
Goldenberg: Genau. Der hat in einem Gasthof einem Wehrmachtssoldaten eine Pistole gestohlen. Die hatte der auf der Garderobe hängen an seinem Gürtel, und Peppi ist einfach mit vollem Selbstbewusstsein dort hingegangen, hat sich diese Pistole selbst umgehängt, weil der Wehrmachtssoldat in die andere Richtung geschaut hat, und ist damit aus dem Lokal rausgegangen, hat diese Pistole dann meinem Großvater gegeben, hat sie selbst nie wieder in die Hand genommen, weil Peppi hatte selbst panische Angst vor Waffen. Und dann haben sie irgendwie versucht, dass mein Großvater ein bisschen lernt, zu schießen. Und wie sie das gemacht haben, zumindest erzählt das mein Großvater so ist, dass sie in der Wohnung – das war eine Wohnung im zweiten Stock in einer belebten Gegend von Wien – Holz aufgestapelt haben. Darauf hat er gezielt, und wenn er geschossen hat, hat der Peppi gleichzeitig ganz viele Metalltöpfe fallen lassen, damit ein so großer Lärm ist, dass die Nachbarn nicht drauf kommen, dass da ein Schuss gefallen ist.

Reise nach Theresienstadt

Scholl: Frau Goldenberg, Sie haben schon Helga erwähnt, die Großmutter also, die Ehefrau von Hansi. Das war eine wichtige Begleiterin für Sie. Die lebt ja noch, inzwischen hochbetagt. Sie ist mit Ihnen überall hingefahren auf Ihrer Recherchereise, bis nach Theresienstadt, das KZ, wo sie selbst die schlimmsten Jahre in ihrem Leben zugebracht hat. Wie waren denn diese Reisen von Oma und Enkelin?
Goldenberg: Theresienstadt, das war bizarr, weil das war eigentlich eine wirklich schöne Reise. Da bin ich gemeinsam mit ihr und ihrer jüngeren Schwester, der Liese, die auch im KZ war, und meiner Cousine, hingefahren. Das war ein Vorschlag von einer Redakteurin vom "Zeit-Magazin", wo auch eine Geschichte dann darüber entstanden ist. Und die waren total begeistert, dass ich mit ihnen dort jetzt hinfahren will. Und wir sind nach Prag, haben dort übernachtet, sind dann nach Theresienstadt, und sie haben mir das alles gezeigt und hatten wirklich eine Freude daran, mir jetzt diesen Teil ihrer Jugend zu zeigen. Der Schrecken schien da schon zum Teil relativ weit weg, ist dann aber doch immer wieder hochgekommen.
Scholl: War Ihnen da selbst nicht mulmig dabei, wenn die alten Frauen da sozusagen von solchen furchtbaren Dingen erzählten, als ob es eine Art von touristischer Fahrt wäre?
Goldenberg: Es geht einem natürlich schon näher, wenn man dort ist vor Ort, als wenn man diese Geschichten zu Hause hört, vor allem, wenn man wirklich in Theresienstadt ist. Da sieht man dann noch mal ganz deutlich, wie perfide die Nazis das angelegt haben. Weil Theresienstadt ist wirklich dieses kleine Städtchen mit den Stadtmauern drumherum, durchaus hübsch …

Überlebende brauchten alle wahnsinniges Glück

Scholl: Das war so das Vorzeige-KZ, nach außen hin.
Goldenberg: Genau. "Der Führer schenkt den Juden eine Stadt." Und wenn man das sieht, dann kann man sich auch sehr gut vorstellen, dass da die Leute drauf reingefallen sind, weil es wirklich so aussieht.
Scholl: Frau Goldenberg, wie hat sich denn jetzt durch diese Arbeit an diesem Buch und durch dieses Buch jetzt vielleicht auch Ihr eigenes Bild von dieser Zeit, von dieser Zeitgeschichte verändert?
Goldenberg: Eine Sache, die mir bewusst geworden ist, ist, dass vielleicht meine Großeltern besonderes Glück hatten, aber eigentlich hatten alle Überlebenden ein wahnsinniges Glück. Ich habe dann im Zuge meiner Recherche mich mit verschiedenen Überlebendenschicksalen beschäftigt. Und durch dieses Netz zu rutschen, das ist wirklich nur wenigen geglückt.
Scholl: Und Ihr Verhältnis zu Ihrer Familie? Sie erzählen ja auch davon, dass Sie – wie die Großeltern – schließlich auch wieder nach Wien zurückgekehrt sind.
Goldenberg: Ich werde es immer wieder gefragt. Jetzt bin ich seit drei Jahren wieder in Wien, und genauso wie man mich damals in New York gefragt hat, wie kannst du in Wien leben, werde ich jetzt gefragt, wie konntest du New York verlassen, und das verstehen die Leute nicht. Aber ich bin irgendwie sehr froh, hier zu sein und in der Nähe meiner Familie. Ich sehe das irgendwie auch so ein bisschen als ein Statement. Man wollte uns vertreiben, und man wollte uns vernichten, aber ich bin jetzt hier, und ich gehe nicht weg.
Scholl: Anna Goldenberg aus Wien. Ich danke Ihnen für dieses Gespräch!
Goldenberg: Danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Anna Goldenberg: "Versteckte Jahre. Der Mann, der meinen Großvater rettete"
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2018
192 Seiten, 20 Euro

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