Zweiter Weltkrieg: "Child Survivors"

Das Leben nach dem Überleben

Am Ende des Gleises im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau steht eine Plastik, die an das Zerreißen der Familien auf der Rampe erinnert.
Skulptur, die an das Zerreißen jüdischer Familien zur Zeit des Nationalsozialismus erinnert © picture alliance / zb /Frank Schumann
Von Angelika Calmez · 30.01.2015
Während der Shoa wurden sie unter falschen Identitäten versteckt, nach dem Krieg fanden sie in Israel ein neues Zuhause: Zwei jüdische Frauen, die als Kinder den Holocaust überlebten, erzählen von ihren Schicksalen.
"Mehr als Hunger und Elend macht mir die Erniedrigung zu schaffen. Dass ich versteckt wurde, ganz normale Menschen mich gejagt haben."
Im Gespräch mit der Shoa-Überlebenden Lea Balint. Die Israelin mit polnischen Wurzeln gehört der Generation der so genannten Kinderüberlebenden oder Child Survivor an. Child Survivor sind heute zwischen 70 und 80 Jahre alt, und sie haben zunehmenden Betreuungsbedarf. Nach Auskunft der Zentralen Wohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland sehen sich Beratungsstellen für Shoa-Überlebende jetzt häufiger Menschen gegenüber, die zum Teil sehr früh von ihren Familien getrennt und unter falschen Identitäten versteckt wurden – etwa in christlichen Familien oder Klöstern, wie Lea Balint.
"Es erschien so unglaublich, dass ich überlebt hatte. Aber, was sollte das heißen, 'überleben'? Ich dachte damals, Kinder würden in Klöstern geboren, und die Nonnen seien ihre Mütter. Woher hätte ich wissen sollen, was eine Familie ist?"
Die eigene Geschichte verschwiegen
Lea wird 1938 in einer jüdisch-orthodoxen Familie im polnischen Ostrowiec geboren. Im Jahr 1939 überfallen die Nazis Polen. Leas Vater wird deportiert. 1943 verliert sie auch die Mutter. Helfer aus dem Untergrund bringen sie in ein Kloster. Dort wird Lea zu Lina. Heute noch sieht sich die Überlebende in ihren frühesten Erinnerungen als katholisches Mädchen. Nach Kriegsende wird Lea wird von einer Cousine identifiziert und in ein jüdisches Kinderheim gegeben. Dort findet sie der Vater, der das Konzentrationslager Auschwitz überlebt hat. Die erste Begegnung wird zum Schock:
"Ich sah drei Männer, zwei von ihnen sehr elegant gekleidet. Der in der Mitte wirkte aufgedunsen, obwohl er sehr dünn war. Seine Augen lagen tief hinten, wie bei einem Totenschädel! Ich ging also zu einem der gut Aussehenden, und sagte Hallo. Doch der Mann gab mich weiter. Als ich merkte, welcher mein Vater war, bin ich weggerannt."
Lea bleibt zunächst im Kinderheim. Als sie zwölf Jahre alt ist, emigrieren Vater und Tochter nach Israel. Leas Situation wird dort von Gleichaltrigen kaum verstanden:
"Manche sagten, ihr seid doch wie die Schafe zur Schlachtbank gelaufen. Ihr habt doch nie gekämpft. Also verschwieg ich meine Geschichte, um wie alle anderen zu sein."
Späte Entdeckung der ersten Lebensjahre
Die Bemühungen um Anpassung haben Erfolg. Lea studiert, arbeitet als Hebräisch-Lehrerin, heiratet, bekommt drei Kinder, betreut Freiwillige. In jenen Jahren entfernt sie sich von ihrer polnischen Vergangenheit, vergisst die Sprache. Lea Balint ist schon über 40 Jahre alt, da lädt die Jerusalemer Universität zu einer Bildungsreise nach Polen ein. Lea Balint wagt die Konfrontation mit ihrer verdrängten Vergangenheit. Nach dem Ende des kommunistischen Regimes forscht sie in Polen nach den Namen geretteter jüdischer Kinder. Im Jüdischen Historischen Institut in Warschau entdeckt sie ihre ersten Lebensjahre:
"Es gab dort Karteikarten von den Heimkindern. Mein Name war leider nicht dabei, auch nicht der aus dem Kloster. Auf der letzten Karte stand 'Seidenberg', der Name meiner Mutter."
Zudem enthält die Karteikarte aufschlussreiche Informationen: Mutter und Tochter waren zwei Jahre im Ghetto Ostrowiec, dann gingen sie nach Warschau. Die Mutter wurde von der Gestapo verhaftet. Später hört Lea Balint über Dritte, ihre Mutter sei verraten und von der Gestapo ermordet worden.
"Das ist meine Geschichte. Ich fand meine verlorenen Jahre, die mir mein Vater nicht erzählen konnte, weil er in Auschwitz war."
Lea Balint hat ihren Vater zurückbekommen. Eine ganz andere Geschichte erzählt die Shoa-Überlebende Miriam Magall, die keine Verbindung zu ihrer Ursprungsfamilie mehr hat.
"Ich war ja zwei verschiedene Menschen. Bis ich das erfahren habe, wer ich bin, war ich offiziell, bin ich ja mit meinen Papieren immer noch, eine bestimmte Person. Und dann mit 21 als ich volljährig wurde, dann habe ich meine eigene Identität zusammengebastelt, habe sie aber erst richtig gefunden, als ich in Israel ankam."
Miriam Magall wird 1942 im heutigen Polen geboren, im damals ostpreußischen Treuburg. Sie wächst in Seesen am Harz auf, geht als Au-Pair-Mädchen nach Genf, übersiedelt nach London. Dort putzt sie in einem jüdischen Haushalt, beginnt, als Jüdin zu leben. Sie studiert Übersetzerin in Saarbrücken, emigriert 1969 nach Israel, arbeitet dort für internationale Organisationen. Privat erlebt sie Liebe und Trennung, zieht schließlich mit ihrem Sohn wieder nach Deutschland.
Über ihre Vergangenheit schweigt sie. Zu Beginn der Nullerjahre wird in Berlin das Holocaustdenkmal für die ermordeten Juden Europas errichtet. Miriam Magall übersetzt dafür Texte aus dem Hebräischen, aus dem Jiddischen – und fasst einen Entschluss:
"Die Beschreibung, wie die Juden in Zamosc ermordet wurden, war grausam. Und dann hab ich mir eben vorgestellt, dass eben auch meine Familie da war. Und dann dachte ich, so, jetzt muss ich endlich mal darüber reden. Mein Sohn hat immer gerätselt, wer ist seine Mutter. Und dann wusste er endlich, wer seine Mutter ist, dann hab ich eben so viel darüber erzählt ihm, dann sagt er, nun schreib ein Buch darüber, damit ich das nicht mehr hören muss. Das habe ich dann auch gemacht."
Bildung als eine Art Verteidigunswaffe
Im Jahr 2010 erscheint Miriam Magalls autobiografischer Roman "Das Brot der Armut". Demnach beginnt ihre Geschichte in einer jüdischen Arztfamilie aus Warschau. Miriam Magalls Alter Ego wird auf der Flucht geboren, in einem Versteck unweit von Treuburg. Die Eltern vertrauen das Baby ihrem deutschstämmigen Hausmädchen an. Die Mutter stirbt an den Folgen der Geburt, der Vater wird von Deutschen ermordet. So nimmt die Angestellte das jüdische Waisenkind nach Kriegsende mit nach Westdeutschland. Sie findet einen Lebenspartner, erklärt das Kind vor den Behörden zur eigenen Tochter. Für das Mädchen beginnt ein Martyrium, an das sich Autorin Miriam Magall lebhaft erinnert:
"Wir wohnten in diesem Flüchtlingslager mit sehr hellhörigen Baracken, also wenn jemand in der ersten Wohnung sich umdrehte, hat man es in der fünften Wohnung gehört. Und dort wurde ich vom Alter von fünf bis fünfzehn Jahren regelmäßig vergewaltigt. Und das haben alle mitbekommen. Ich hab versucht, mir Hilfe zu suchen. Und alle haben gesagt, du liest zu viel, das ist Fantasie."
Weiter mit der Schilderung im Roman: Hier weiß die junge Protagonistin nichts über ihre jüdische Herkunft. Erst als eine Trennung von der Familie bevorsteht, erfährt sie die Wahrheit. Die 18-Jährige hat einen Au-Pair-Aufenthalt in Genf geplant. Am Abend vor der Abreise nimmt die Retterin sie bei Seite und erzählt bis zum Morgengrauen über die Umstände ihrer Geburt. Dann verabschieden sich die beiden voneinander. Der jungen Frau bleiben eine hebräische Heiratsurkunde ihrer Eltern und zwei Schmuckstücke. Ein weiteres Gespräch gibt es nicht, denn die Retterin stirbt bald darauf. Autorin Miriam Magall quälen Fragen:
Die Arbeit als Selbstdefinition
"Warum hast du niemanden von meiner Familie gesucht? Warum hast du mich nicht einer jüdischen israelischen Organisation übergeben? Ich hätte ein ganz, ganz anderes Leben gehabt, wenn ich in Israel in einem Jugenddorf aufgewachsen wäre. Ich wäre von Anfang an frei und unbeschwert gewesen und hätte mein eigenes Leben bestimmen können, statt dass ich da beleidigt, gedemütigt und vergewaltigt wurde und mir jede Möglichkeit zur Bildung genommen wurde. Also ich bin sehr bitter, es tut mir Leid."
Das Abitur durfte Miriam Magall nicht machen. Aber für ihre Bildung hat sie selbst gesorgt. Bildung scheint ihr zu einer Art Verteidigungswaffe gegen ihre verrohte Umgebung geworden zu sein. Die Arbeit als Dolmetscherin und Übersetzerin wird ihr zur Selbstdefinition, sagt sie. Nach eigenen Angaben hat Miriam Magall neben Deutsch, Englisch und Französisch elf weitere Sprachen gelernt. Sie hat mit 53 Jahren ihr Abitur nachgeholt und ein zweites Mal studiert. Sie hat 300 Bücher übersetzt, Sachbücher und Romane geschrieben. Auch für ihre Lebenserzählung hat sie ein literarisches Genre gewählt. Historische Faktentreue ist hier nicht vorgesehen – das zeigt zum Beispiel der Schluss des Buches: In Israel lässt die Autorin ihr Alter Ego durch einen Terroranschlag sterben.
"Also um die Wunde zum Heilen zu bringen, schreibe ich ja Bücher. Die Protagonisten sterben immer gewalttätig mit viel Feuer und viel Blut. Das ist meine Art, diese Vergangenheit aufzuarbeiten. Ich bin gerade beim vierten Buch, und da sterben auch wieder die Leute auf nicht besonders angenehme Art und Weise. Ich kanns nicht anders."