Anna Fodorová: „Lenka Reinerová, Abschied von meiner Mutter“

Die Verwerfungen des 20. Jahrhunderts

05:57 Minuten
Das Buch zeigt das Schwarzweißporträt von Lenka Reinerova - eine freundlich wirkende, etwas ältere Dame vor neutralem Hintergrund.
© btb Verlag

Anna Fodorova

Aus dem Tschechischen von Christina Frankenberg

Lenka Reinerová, Abschied von meiner Mutterbtb, München 2022

204 Seiten

12,00 Euro

Von Olga Hochweis · 11.05.2022
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Als die tschechische Schriftstellerin Lenka Reinerová starb, ging eine Epoche zu Ende. Ihre einzige Tochter hat ein Porträt der Mutter verfasst. Es erzählt von Traumata und Verlusten – und von einer besonderen Mutter-Tochter-Beziehung.
Viele „Mutterbücher“ belegen: Wer über die eigene Mutter schreibt, verrät auch einiges über sich selbst. Obwohl Anna Fodorová seit mehr als 50 Jahren in London lebt, hat sie das Erinnerungsbuch an ihre Mutter, die Journalistin und Schriftstellerin Lenka Reinerová, auf Tschechisch verfasst.
Das ist bezeichnend für dieses feinsinnige und dichte Porträt. Die Psychotherapeutin Fodorová erzählt von ihrer so zarten wie zähen Mutter, aber sie beschreibt auch eindrücklich - in der Sprache ihrer ersten 20 Lebensjahre in der Tschechoslowakei - die eigene nachhaltige Prägung als Kind einer verfolgten jüdischen und kommunistischen Familie.

Inhaftierungen und Publikationsverbot

Lenka Reinerová (1916-2008) war die letzte Vertreterin der jüdisch-deutschsprachigen Literatur in Prag. Sie kannte Egon Erwin Kisch und Max Brod, war später auch mit Anna Seghers bekannt. Dem Holocaust entging Reinerová als Einzige ihrer Familie nur deshalb, weil sie als junge Journalistin bei der Nazi-Besetzung ihres Landes zufällig in Rumänien war. Reinerová floh nach Paris, wo sie verhaftet wurde und sechs Monate in Einzelhaft verbrachte.
Aus einem Frauenlager in Südfrankreich gelang ihr über Marokko die Flucht nach Mexiko, wo sie ihren späteren Mann Theo Balk kennenlernte. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kehrte sie mit ihrem Mann zunächst in dessen serbische Heimat zurück, bevor sie mit der kleinen Tochter 1948 in die Tschechoslowakei kamen.
Dort wurde Reinerová während der antisemitischen und stalinistischen Slánsky-Prozesse erneut inhaftiert und mehr als ein Jahr von ihrem Kind getrennt. Erst 1964 wurde Reinerová rehabilitiert. Doch sie blieb aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen und erhielt Publikationsverbot.

Letzter Besuch bei der Tochter

Von den vielen Traumata und Verlusten ihrer Mutter erzählt Anna Fodorová fragmentarisch und unchronologisch - in großen assoziativen Bögen, die sich zwischen Schlüsselszenen der Vergangenheit und dem letzten Lebensjahr Lenka Reinerovás bewegen.
Im Kern beschreibt das Buch anschaulich und sehr lebendig den letzten Besuch der 91-Jährigen bei ihrer Tochter in London. Ein Sturz zieht einen mehrwöchigen Krankenhausaufenthalt nach sich. Minutiös beschreibt die Autorin alle Bemühungen, der Mutter zu helfen.

Selbstmitleid war verpönt

Sensibel schält sie dabei das Wesen einer selbstdisziplinierten Frau heraus, die nie klagt und sich immer wieder an kleinen Dingen aufrichtet und erfreut - sei es durch Blumen im Garten oder die langersehnten Rückkehr in die vertraute Prager Wohnung.
Selbstmitleid ist verpönt. Das Schuldgefühl, überlebt zu haben, erfordert es, „fehlerlos zu sein und perfekt.“ Doch zugleich ist da die große Leerstelle der ermordeten Angehörigen und die Unfähigkeit, über deren Verlust sprechen zu können.

Ein schonungsloses, ehrliches Buch

Dieses warmherzige und sehr lesenswerte Buch entwirft nicht zuletzt das Psychogramm einer tiefen Mutter-Tochter-Beziehung, die von den Verwerfungen des 20. Jahrhunderts geprägt ist. Schonungslos und ehrlich macht Anna Fodorová deutlich, wie nachhaltig die Traumata der Eltern ihr eigenes Leben geprägt haben. „In einer Familie von Helden wuchs ich zu einem Angsthasen heran.“
Ihre Erkenntnis lässt sich auf Generationen von Menschen übertragen und bleibt gerade in diesen Zeiten von trauriger Aktualität.

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