Zum Tod der Schriftstellerin Ruth Klüger

Unerbittlich, aber auch verletzlich

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Die Schriftstellerin Ruth Klüger 2008 in Wien.
Schrieb im Stil einer provokativen Lakonik: Ruth Klüger. © picture alliance/dpa/Robert Newald/picturedesk
Carsten Hueck im Gespräch mit Julius Stucke · 07.10.2020
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Ruth Klüger überlebte mit ihrer Mutter den Holocaust und wurde später in den USA eine anerkannte Literaturwissenschaftlerin. In der Diskriminierung von Juden und Frauen erkannte sie später Parallelen, sagt Literaturkritiker Carsten Hueck.
Ruth Klüger ist in einem antisemitischen Europa, mit der Ausgrenzung jüdischer Menschen im Alltag und mit dem Holocaust aufgewachsen. 1942 war sie elf Jahre alt, als sie mit ihrer Mutter ins KZ deportiert wurde. Nach 1945 emigriert Ruth Klüger in die USA, wo sie Literaturwissenschaftlerin wurde und Schriftstellerin. Am 6. Oktober ist Ruth Klüger im Alter von 88 Jahren in Kalifornien verstorben.


Ruth Klüger war eine "zähe und verletzliche Person", sagt Carsten Hueck, Literaturredakteur beim Deutschlandfunk Kultur. Sie sei auch zynisch, ungeschützt, sarkastisch, selbstkritisch, präzise und unerbittlich gewesen. Sie habe ihre Erfahrungen direkt mit in ihr Leben genommen.
Auch sich selbst habe sie nicht unbedingt als konsequent gesehen, meint Hueck, aber wenn es um das Thema Schoah gegangen sei, dann habe sie eine klare Position bezogen. So habe sie 1992 mit der Veröffentlichung ihrer Autobiografie "weiter leben. Eine Jugend" einen wichtigen Zeitpunkt erwischt, sagt Hueck.
Damals lag bereits die sogenannte "Lagerliteratur" und "Zeitzeugenliteratur" vor. Und ihre Erinnerungen reflektieren diese bereits vorhandenen Bücher, und das mache ihr Werk so besonders, meint Hueck. "Sie verbindet in ihrem Buch zwei Zeiten miteinander." Ihre Erinnerungen und die Zeit in Göttingen, wo sie Ende der 80er-Jahre als Gastprofessorin anfing zu schreiben.
"Es springt immer hin und her und sie verbindet Erlebnisse der Gegenwart mit Erlebnissen der Vergangenheit. Das macht dieses Buch gewissermaßen besonders. Sie fasst Fakten, Fiktionen, Literatur, Geschichte, Wirklichkeit zusammen. Darum dreht es sich. Und darum dreht es sich in ihrem Schreiben überhaupt. Immer wieder."

Abrechnung mit der Männerwelt

In ihrem zweiten Buch "unterwegs verloren. Erinnerungen" aus dem Jahr 2008 verhandelt sie ihr zweites großes Lebensthema – nicht nur die Erfahrung als Jüdin ausgegrenzt worden zu sein, sondern auch als Frau, erklärt Hueck.
"Sie beschreibt ihre akademische Karriere in den Vereinigten Staaten und was sie dort über die überwiegend männliche Professorenschaft schreibt, was sie über ihren Ehemann schreibt, über ihre Söhne, das ist nicht wirklich schön. Das sind Erlebnisse einer Frau, die einen feministischen Blick bekommen hat."
Sie rechne mit der Männerwelt ab und ziehe Parallelen zwischen dem Jüdischsein und dem Frausein. Sie war sehr erfolgreich, sagt Carsten Hueck. Sie sei in den USA die bekannteste Germanistin gewesen, in Princeton habe sie das German Department geleitet und sie war Spezialistin für Kleist und Lessing. Aber sie habe genauso erlebt, dass in einer patriarchalen Gesellschaft Frauen ausgegrenzt werden.
Sie habe sich als Wissenschaftlerin stets durchsetzen müssen, sagt Irmela von der Lühe. Die ehemalige Professorin im Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften am Institut für deutsche und niederländische Philologie an der Freien Universität Berlin war nicht nur eine Kollegin, sondern auch Freundin von Ruth Klüger. Als Klüger an die Universität Princeton berufen wurde, was die Krönung einer akademischen Karriere für eine Frau in den 70er und 80er-Jahren gewesen sei, habe sie dennoch nicht gezögert "einem Mann, der ihr dumm kam, ein Glas Weißwein ins Gesicht zu schleudern, was natürlich das Ende der Karriere in Princeton bedeutete, was sie aber überhaupt nicht gestört hat."

Sentimentalität war ihr verhasst

"Sie war von einer beeindruckenden Spontanität und Herzlichkeit bei gleichzeitig erstaunlich spröder Haltung", sagt Irmela von der Lühe. "Was ihr extrem zuwider war, das konnte man bei jeder persönlichen Begegnung erleben, das zieht sich durch ihre Texte, war Sentimentalität. Sie nannte es schlichtweg Kitsch. Und wenn man den richtigen Ton mit ihr traf, was ganz einfach war, dann hat man eine sprühende, vitale, ungemein neugierige und diskussionsfreudige Kollegin erlebt, die auf alles neugierig war, die argumentativ keinerlei Tabus kannte."
Die Aversion gegen Sentimentalität finde sich auch in ihrem Buch "weiter leben. Eine Jugend", mit dem sie anfang der 90er-Jahre berühmt wurde. "In dem Moment, wo Sie davon sprechen, dass sie eine Leidensgeschichte gehabt habe, würde sie protestiert haben", so Irmela von der Lühe. "Sie erzählt nicht von Leiden. Sie spricht von Erfahrung. Sie diagnostiziert was, woran sie sich erinnert."

Sprachliche Schonungslosigkeit

Dabei schreibe sie zum Teil im Ton einer "provokativen Lakonik". "Die zeigt sich in Formulierungen, die zeigt sich in der im Arrangement der erzählten Inhalte", erklärt von der Lühe. Ein Beispiel sei der Satz: "Ich kann meine Mutter nicht leiden, aber sie hat mir das Leben gerettet." "Die Schonungslosigkeit, mit der sie sprachlich, erzählerisch und inhaltlich mit ihrer Beziehung zu ihrer Mutter umgegangen ist, war schockierend. Das war das Produkt einer Reflexion darüber."
Reflexion sei eine große Stärke von Ruth Klüger gewesen. In ihren Texten tauche auch der Gedanke des Zweifelns auf, die Frage: Wie könne sie über Lager erzählen, wo doch schon alles erzählt und aufgeschrieben worden sei. Sie habe ihren ganz eigenen Ton in ihren Texten gefunden, so von der Lühe, und konnte selbst skandalöse Geschichten auf amüsante Weise erzählen. "Amüsant heißt nicht skandalisierend, sondern so, dass Sie das Gefühl haben, als Leserin, das musste erzählt werden, und das kann sonst niemand so wie sie."

Hören Sie hier das komplette Interview mit Irmela von der Lühe: Audio Player

(jde/nho)
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