Ander Izagirre: "Der Berg, der Menschen frisst"

Rohes Leben im Dienst der Rohstoffe

07:28 Minuten
Das Cover zeigt den Berg Cerro Rico im bolivianischen Hochland. Darüber der Buchtitel und der Autorenname.
© Rotpunkt Verlag

Ander Izagirre

Aus dem Spanischen von Grit Weirauch

Der Berg, der Menschen frisst. In den Minen des bolivianischen HochlandesRotpunktverlag , Zürich 2022

224 Seiten

25,00 Euro

Von Wolfgang Schneider |
Audio herunterladen
Seit Jahrhunderten schuften Menschen in den Bergminen des bolivianischen Hochlandes. Dass sich dort auch heute die Geschichte der Ausbeutung fortsetzt, zeigt Ander Izagirre in seinen Reportagen. Ein bedrückendes und zugleich mitreißendes Buch.
Mitte des 17. Jahrhunderts war es mit 200.000 Einwohnern die größte Stadt von ganz Amerika: Potosí, ein Ort der Extreme. Auf menschenfeindlichen 4.000 Meter Höhe in den Zentral-Anden gelegen und dank der Minen des legendären Berges Cerro Rico das Silber-Eldorado der Welt.
Das spanische Königreich schöpfte hier mittels indigener Sklavenarbeit enorme Reichtümer ab, bis zur weltweiten Silber-Inflation. Zahlreiche Glücksritter und Händler wurden in die Region gelockt.
Der spanische Journalist Ander Izagirre erzählt die lange Geschichte des bolivianischen Rohstoff-Kolonialismus. Der Segen des Rohstoffreichtums wurde zum sozialen Fluch. Denn auch nach Ende der spanischen Herrschaft ging der Export von Zinn, Zink und Silber nie mit dem Aufbau einer tragfähigen, diversifizierten Ökonomie einher.
Bolivien blieb ein Land weitgehend ohne Infrastruktur und Industrie. Durch die starke Abhängigkeit von den schwankenden Rohstoffpreisen auf den Weltmarkt wurde es politisch erpressbar. Es gab zahllose Putsche und wechselnde Militärdiktaturen. Die Instabilität blieb die Konstante in der Geschichte des Landes, die Izagirre nebenbei vermittelt.

Zwischen Industrieruinen

Gekonnt verbindet er die historischen und ökonomischen Ausführungen mit eigenen Reportagen rund um den Cerro Rico. Mehrfach besucht er eine Familie, die auf dem vielfach durchlöcherten Berg in einer windschiefen Hütte vor einem Mineneingang lebt. Die prekären Lebensbedingungen, die endlosen Leiden und die nicht abzutötenden Hoffnungen der Menschen werden vor allem in den Gesprächen mit der ehrgeizigen Teenager-Tochter Alicia anschaulich, die von einem besseren Leben träumt.

Abonnieren Sie unseren Weekender-Newsletter!

Die wichtigsten Kulturdebatten und Empfehlungen der Woche, jeden Freitag direkt in Ihr E-Mail-Postfach.

Vielen Dank für Ihre Anmeldung!

Wir haben Ihnen eine E-Mail mit einem Bestätigungslink zugeschickt.

Falls Sie keine Bestätigungs-Mail für Ihre Registrierung in Ihrem Posteingang sehen, prüfen Sie bitte Ihren Spam-Ordner.

Willkommen zurück!

Sie sind bereits zu diesem Newsletter angemeldet.

Bitte überprüfen Sie Ihre E-Mail Adresse.
Bitte akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung.
Heute schuften noch immer Tausende Bergleute am Cerro Rico, aber Potosí hat den einstigen Glanz eingebüßt. Es gilt als ärmstes Departement im ärmsten Land Südamerikas, die Hälfte der Bevölkerung sind Analphabeten. Die Maschinen, die vor hundert Jahren aus Europa und den Vereinigten Staaten für die Bergbauunternehmen herbeigeschafft wurden, rosten vor sich hin. Neunzig Prozent der Bergleute arbeiten wieder auf vormoderne Weise mit Hacken und Hämmern.

Tod in den Minen

Verschüttet, zerquetscht, in Schächte gestürzt, vom Dynamit zerfetzt oder nach 20 Jahren Plackerei von der Silikose dahingerafft: Die Todesarten in den Minen von Potosí sind zahlreich. 14 Bergarbeiter sterben pro Monat am Cerro Rico; ihre durchschnittliche Lebenserwartung beträgt 40 Jahre.
Die Männer wissen um ihr Verfallsdatum, was wiederum einen rücksichtslosen Hedonismus voller Rausch und Rohheit befördert, der viele Familien zerstört und Frauen und Kinder zu Opfern macht. Auch dieser Problematik widmet sich Izagirre.
Das Verhängnis scheint ausweglos. Denn Maßnahmen wie das Verbot der Kinderarbeit, Umweltauflagen und die Verbesserung der Arbeitsbedingungen scheitern bisher immer wieder am entschlossenen Widerstand gerade derjenigen, denen sie in der Theorie helfen sollen. Die Bergarbeiter protestieren gegen die Abgaben für Kranken- und Rentenversicherung, die Kinder sogar gegen die Einführung von Kinderrechten, weil dadurch das geringe Einkommen der Familien geschmälert würde.
Differenziert stellt Izagirre die höchst problematische Rolle der ausbeuterischen, gegen jede staatliche Regulierung aufbegehrenden Genossenschaften dar, in denen die meisten Bergarbeiter organisiert sind.
„Der Berg, der Menschen frisst“ ist ein bedrückendes Buch. Dank seiner Qualitäten – gut recherchiert, mitreißend geschrieben und überaus welthaltig – ist es dennoch sehr zu empfehlen.
Mehr zum Thema