Ali Al-Kurdi: "Der Schamaya-Palast"

Der Traum von der Rückkehr

06:37 Minuten
Cover von Ali Al-Kurdis Roman "Der Schamaya-Palast". Dort ist eine arabische Stadt mit einem Torbogen und Menschen auf der Straße zu sehen.
© Wallstein

Ali Al-Kurdi

Aus dem Arabischen von Larissa Bender

Der Schamaya-PalastWallstein, Göttingen 2022

178 Seiten

22,00 Euro

Von Ingo Arend · 07.09.2022
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Der syrische Autor Ali Al-Kurdi erinnert in "Der Schamaya-Palast" an das Schicksal der Flüchtlinge aus Palästina und die verlorene Multikultur des alten Damaskus. Ein erzählerisch starker Roman mit einer tiefen Menschenfreundlichkeit als Fundament.
Nakba – "große Katastrophe“: So nennen die Palästinenser die Vertreibung Hunderttausender ihrer Landsleute nach 1948 aus dem ehemaligen britischen Mandatsgebiet. Für sie das Ground Zero des Nahen Ostens, ist dieses Ereignis hierzulande nahezu unbekannt.
Der syrische Schriftsteller Ali Al-Kurdi geht noch einmal zu dieser historischen Zäsur zurück. In seinem Debüt-Roman „Der Schamaya-Palast“ zeichnet der 1953 in Damaskus geborene Autor ein lebendiges Bild der Zeit nach dem Massenexodus.
Viele der palästinensischen Flüchtlinge verschlägt es nach Syrien. Ein paar Hundert wurden in dem Schamaya-Palast im jüdischen Viertel der Altstadt von Damaskus einquartiert. Der reiche Jude, der ihm den Namen gab, ist in das neue Israel ausgewandert.
Ohne Perspektive hausen 50 Familien auf engstem Raum in dem dreckigen, verfallenden Palast. Ihr „legitimer Traum“, die Heimat, ist wie ein „zerrissenes Taschentuch“ in Palästina zurückgeblieben.
Eine unfassbare Kluft
Sie leben von den täglichen Milch- und Reisrationen einer UN-Hilfsorganisation, werden von den Syrern abschätzig behandelt und träumen den „Traum von der Rückkehr“.
Morgens beobachten sie ehrfürchtig die verbliebenen Juden vom Dach der Synagoge beim Beten. Sie sprachen arabisch wie sie und trotzdem gab es „eine unfassbare Kluft, die uns aus irgendeinem Grund von ihnen trennte, dessen Kern zu verstehen mir schwerfiel“.
Die Geschichte entfaltet sich aus zwei Perspektiven: Ahmad ist muslimischer Palästinenser, wegen seiner einfachen Herkunft von Komplexen geplagt. Auf der Schule lernt er George kennen, den selbstsicheren Sohn eines orthodoxen Priesters.
Zögernd freunden sich die beiden an, besuchen sich gegenseitig bei religiösen Feiern. So, wie sie das fremde Milieu wechselseitig wahrnehmen, funktioniert der Roman als Modell der Empathie für das Fremde, dem wir eine der berührendsten Freundschaftsszenen der jüngeren Literaturgeschichte verdanken.
Al-Kurdis Roman ist eine Ode an die versunkene Multikultur seiner Heimat. Dabei kommt er ohne jede Nostalgie aus: Nüchtern registriert er, wie die Zeitläufte dieses „Sammelbecken unterschiedlicher Religionen, Ethnien und Kulturen“ austrocknen, welches der Freundeskreis um die beiden Hauptfiguren in der verwinkelten Altstadt erkundet.  
Menschen aus Fleisch und Blut
Der introvertierte Ahmad schließt sich dem bewaffneten Kampf der Fedajin an und wandert in Israel ins Gefängnis. Seine ausgewanderte Cousine Rascha fühlt sich in den USA wie eine „fremde Pflanze ohne Wurzeln“. Ahmads Freund Musa fühlt sich durch die Gründung Israels seiner Identität als arabischer Jude beraubt und flüchtet nach Paris.
Al-Kurdis Sympathien für die palästinensische Sache sind offenkundig. Sein Roman ist aber kein politisches Pamphlet. Der virtuos verknappte Episodenroman öffnet einen Kosmos widerstreitender Emotionen und Haltungen der nuanciert entwickelten Charaktere.
In der feinen Übersetzung von Larissa Bender geht kein Gramm der tiefen Humanität und literarischen Raffinesse dieses außerordentlichen Erzählers verloren. In Syrien saß er wegen seines kritischen Journalismus in Haft. Heute lebt er in Weimar.
2010 erstmals erschienen, ist der Roman heute angesichts des Ukraine-Krieges aktueller denn je. Wenn George nach einem Besuch im Schamaya-Palast durch den Kopf geht, dass die Palästinenser „Menschen wie wir mit all ihren Widersprüchen, Leidenschaften und Konflikten“ waren, wird klar: Wenn es einen Roman gibt, der den „Schmerz der anderen zu verstehen“ (Charlotte Wiedemann) lehrt, dann der bewegende „Schamaya-Palast“.
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