Ghassan Kanafani

Umstrittener Schriftsteller und gefeierter Volksheld

34:10 Minuten
Ein Porträt-Graffitti des arabischen Autors Ghassan Kanafani an einer Wand.
Ein Graffiti erinnert an Ghassan Kanafani: Der Schriftsteller wurde vor 50 Jahren, am 8. Juli 1972, durch eine Autobombe in Beirut getötet wurde. © Deutschlandradio / Anne Françoise Weber
Von Anne Françoise Weber · 01.07.2022
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Er gilt als einer der wichtigsten arabischen Autoren, ist aber zugleich sehr umstritten. Denn Ghassan Kanafani war Sprecher der linksextremistischen Volksfront zur Befreiung Palästinas, die Flugzeuge entführte und Anschläge verübte.
Der palästinensische Schriftsteller Ghassan Kanafani bewegt – durch seine Kurzgeschichten und Novellen, seine politischen Positionen, sein kurzes, vollgepacktes Leben. Das endete vor 50 Jahren am 8. Juli 1972, als Kanafani durch eine Autobombe in Beirut getötet wurde. Begonnen hatte es 1936 in Akko, damals im britischen Mandatsgebiet Palästina gelegen.

Nakba heißt Katastrophe

Amad Odeh, Palästinenser aus Akko und früheres Mitglied des Stadtrats, führt zum Geburtshaus von Ghassan Kanafani. Das zweistöckige Gebäude liegt in einem ruhigen Wohnviertel nicht weit von der Küste entfernt. Er erzählt:
„Hier, in diesem Haus hat seine Familie gewohnt. Man sieht schon, dass sie recht wohlhabend waren. (…) Sie sind hier herausgezogen, in eine ruhige Gegend. Während der Nakba hat seine Familie dann das Haus verlassen, sie haben ihre Kinder mitgenommen und sind in den Libanon ausgewandert.“
Nakba heißt Katastrophe und bezeichnet die Geschehnisse um die Gründung des Staates Israel 1948 aus arabischer Sicht. Damals flohen rund 700.000 Palästinenser – manche ins Ausland, wie die Familie von Ghassan Kanafani, andere ins Westjordanland und den Gazastreifen. Viele Geschichten Kanafanis drehen sich um palästinensische Geflüchtete an diesen verschiedenen Orten.

Traurige Orangen

Die Titelgeschichte eines seiner frühesten Sammelbände „Das Land der traurigen Orangen“ trägt autobiografische Züge. Hartmut Fähndrich, der Kanafanis Werke für den Lenos Verlag ins Deutsche übertragen hat, sagt dazu: „Ja, es sind traurige Orangen; die Orange ist am Schluss verdorrt, die er auf seinem Nachtisch hat, genau wie das Verhältnis zum Land. Mit diesem sehr schönen und eindrucksvollen Satz: ‚Als wir dann am Nachmittag in Saida ankamen, waren wir Flüchtlinge geworden.‘“
Nach dieser Entwurzelung im Alter von zwölf Jahren führte das Leben Kanafani in verschiedene Länder: Vom Libanon zog die Familie nach Damaskus und lebte dort zunächst in einem Flüchtlingslager. Kanafani begann mit 16, als Hilfslehrer in einer Schule für palästinensische Flüchtlingskinder zu arbeiten.  
In Damaskus studierte er arabische Literatur – Jahre später waren es seine literaturkritischen Werke, die einige palästinensische Autoren bekannt machten. Auch für israelische Literatur interessierte er sich, mit dem Argument, man müsse seinen Feind kennen. An der Universität in Damaskus begann auch seine politische Laufbahn. Er schloss sich einer panarabischen Bewegung an und begegnete dem palästinensischen Arzt George Habash, der noch eine wichtige Rolle in seinem Leben spielen sollte.

Tödliches Ende einer Flucht

1955 zog Ghassan Kanafani nach Kuwait; er arbeitete dort als Kunst- und Sportlehrer und fühlte sich unwohl mit dem Status als Gastarbeiter. Die Hoffnung der zahlreichen Arbeitsmigranten, vom Reichtum der Golfstaaten etwas abzubekommen, verarbeitete er später in seiner ebenfalls von Hartmut Fähndrich übersetzten Novelle „Männer in der Sonne“.
Darin schildert er eindringlich die unterschiedlichen Beweggründe dreier Palästinenser, die sich einem Schlepper anvertrauen. Doch die Reise im Wassertanklastwagen des Schleppers scheitert: Kurz vor der Grenze nach Kuwait verstecken sich die Palästinenser ohne Papiere im leeren Wassertank und verenden darin elend, weil ihr Schlepper von den Grenzbeamten aufgehalten wird und sie nicht schnell genug aus dem höllisch heißen Tank befreien kann. Ihm bleibt nur, die Leichen auf einer Müllkippe zu entsorgen.
Kanafani schrieb die Erzählung 1962. Rund zehn Jahre später verfilmte der ägyptische Regisseur Tawfiq Saleh im Auftrag der syrischen staatlichen Filmorganisation den Text unter dem Titel "Die Betrogenen" – mit einer wichtigen Änderung, wie Hartmut Fähndrich erklärt: „Im Film klopfen die an die Tankwand. Und das ist genau der Übergang, der das gesamte Leben von Ghassan Kanafani kennzeichnet. Dass er bemerkt hat und wahrscheinlich auch mit dazu beigetragen hat durch seine Schriften und durch sein politisches Tun, dass man sich nicht mehr wehrlos ergibt in das, was andere mit einem tun, sondern dass man zumindest – noch sehr bescheiden – an die Tankwand klopft, um zu zeigen, dass man da ist, dass man noch da ist.“

Politisches Engagement

Kanafani soll den Film 1972 noch gesehen und diesen neuen Schluss gebilligt haben. Das Erstarken des palästinensischen Nationalbewusstseins mit der Gründung der PLO 1964 und ihrem Aufruf zum bewaffneten Kampf gegen Israel erlebte er in einem der politischen Zentren der arabischen Welt.
George Habash, den Kanafani aus Damaskus kannte und der Chef einer panarabischen Bewegung war, machte ihm 1960 ein verlockendes Jobangebot: eine Stelle als Redakteur einer sozialistischen Zeitung in Beirut. Ein Jahr später lernte Kanafani dort die dänische Erzieherin Anni Høver kennen; die beiden heirateten nach wenigen Monaten und bekamen einen Sohn und eine Tochter.
1967, nach der Niederlage der arabischen Armeen im Sechs-Tage-Krieg gegen Israel, war Kanafani an der Gründung der Volksfront zur Befreiung Palästinas, kurz PFLP, beteiligt – sein enger Freund George Habash wurde Vorsitzender dieser marxistisch-leninistischen Formation. Er machte Kanafani bald zum Chefredakteur der neuen Wochenzeitung der PFLP namens „al-Hadaf“ (Das Ziel).
Neben seinen journalistischen und schriftstellerischen Tätigkeiten übernahm Kanafani auch die Rolle des Sprechers der PFLP – unter anderem, als die Organisation 1970 vier Flugzeuge nach Jordanien entführte. Die nachfolgenden Kämpfe mit der jordanischen Armee gingen als "schwarzer September" in die Geschichte ein.

Das Bombenattentat

Am 30. Mai 1972 verübten Terroristen der Japanischen Roten Armee einen Anschlag auf den israelischen Flughafen in Lod. 26 Zivilisten wurden getötet, die PFLP bekannte sich dazu. Kurz danach zirkulierte ein Foto von Kanafani mit einem der japanischen Terroristen.
Keine sechs Wochen später, am 8. Juli 1972, stieg Kanafani mit seiner 17-jährigen Nichte Lamis nach einem Frühstück mit der Familie ins Auto. Als er den Motor anließ, explodierte eine Bombe. Beide waren sofort tot. Viele Hinweise lassen vermuten, dass der israelische Geheimdienst den Anschlag verübt hat – offiziell dazu bekannt hat er sich nie.
Seine Witwe Anni Kanafani erzählt: „Und danach gab es eine riesige Demonstration in Beirut. Ich meine, es war der Leichenzug mit über 50.000 Menschen. Sie kamen natürlich aus den Flüchtlingslagern, aber auch viele Politiker, Journalisten, enge Freunde und die Familie.“

„Rückkehr nach Haifa“

Die Novelle „Rückkehr nach Haifa“ hatte nach Kanafanis Tod sicherlich die bewegteste Geschichte. In dem 1969 erschienenen Werk erzählt Kanafani, wie palästinensische Flüchtlinge nach dem Sechs-Tage-Krieg im israelischen Haifa das Haus aufsuchen, das sie 1948 verlassen mussten. Sie treffen dort auf polnische Einwanderer, die nicht nur das Haus übernommen, sondern auch den bei der Flucht zurückgelassenen Sohn adoptiert haben.
Der deutsch-irakische Autor Najem Wali hält diese Beschreibung des von Juden und Jüdinnen in der Shoah erlittenen Leids für sehr außergewöhnlich in der arabischen Literatur dieser Zeit. Auch das biblische Thema der beiden Mütter, die sich um ein Kind streiten, findet Wali gut gewählt - den Schluss aber unpassend. Denn die palästinensischen Eltern lassen ihren ältesten Sohn, der jetzt in der israelischen Armee dient, erneut zurück und hoffen darauf, dass sich der zweite den palästinensischen Kämpfern anschließen wird.
 „Den anderen hat man verloren, aber jetzt müssen wir uns auf den Kampf konzentrieren und Palästina zurückerobern. Das ist für mich Klischee in einem Roman, das kann man in einem politischen Manifest machen. Aber das gehört auch zu der tragischen Figur eines Schriftstellers, der zu diesem Volk gehört, das vertrieben ist aus seinem Land. Vielleicht kann er nicht anders denken.“

Theateraufführung in Israel

Trotz dieses harten Schlusses will der israelische Autor Boaz Gaon die Erzählung nicht als Ruf nach einem Krieg gegen den Staat Israel lesen. Er hatte den Text in einer neuen Übersetzung Anfang der 2000er-Jahre entdeckt, wie er erzählt:
 „Und das hat mich umgehauen. Ich war bewegt, erschüttert von der Schönheit und dem Mut der Geschichte und vor allem von der Entscheidung eines Schriftstellers, die so genannte andere Seite auf sehr humane Weise zu porträtieren. (…) Deswegen habe ich mich bemüht, die Rechte für eine Theaterfassung zu bekommen.“
Er kontaktierte Kanafanis Familie, die ihm nach eingehender Prüfung eine Bearbeitung fürs Theater gestattete. Die Premiere am Cameri-Theater in Tel Aviv im April 2008 war ein Riesenerfolg, es folgten viele Aufführungen – aber es gab Proteste, die verhinderten, dass die Inszenierung noch, wie sonst üblich, durch zahlreiche israelische Regionaltheater touren konnte. Das Stück wurde jedoch drei Jahre später für ein jüdisches Theater in Washington erneut inszeniert. Mit dem gleichen Ergebnis: ein zutiefst bewegtes Publikum, viel Applaus und eine kleine, aber laute Protestbewegung.

Dialog beider Seiten

Diese Geschichte erzählt David Goldenberg in dem Film: „Return to Haifa: The Other’s Story“, der auch den veränderten Schluss des Stücks zeigt: Während in Kanafanis Original das palästinensische Paar wütend und enttäuscht abreist, überredet ihr Sohn sie im Theaterstück, noch für eine Nacht zu bleiben.
Dass Boaz Gaon es wagte, eine ganz eigene Version der Geschichte zu inszenieren, lag unter anderem an einem Gespräch mit einem Palästinenser aus dem Umfeld der Familie Kanafanis. Der vermutete: Wäre Kanafani später geboren worden, würde er heute zu den um Frieden bemühten Fraktionen zählen. Deswegen meint Gaon:
„Er wäre der Ansicht, dass Gespräch und Dialog wichtig sind. Denn das hat er in seiner Geschichte getan, ob er es wollte oder nicht: Er hat sich mit jüdischer Geschichte auseinandergesetzt. Und die unglaublich starke Aussage dabei ist: Wir, die Palästinenser, haben unsere eigene Geschichte und unseren eigenen Schmerz. Und dieser Schmerz hat das Recht zu existieren, ohne auf Kosten der anderen Seite zu gehen. Wir müssen nicht sagen: Sie haben nicht gelitten, um sagen zu können: Wir haben gelitten. Ja, sie haben gelitten. Wir auch.“

Streit um ein Denkmal

Dass Ghassan Kanafani immer wieder für erhitzte Diskussionen sorgt, zeigt ein Besuch des muslimischen Friedhofs von Akko, unweit von Kanafanis Geburtshaus gelegen. Dort erinnert sich der frühere Stadtrat Ahmad Odeh an das Jahresende 2018:
„Es gab ein Komitee, das wollte die Erinnerung an Ghassan Kanafani bewahren, hier in seiner Geburtsstadt Akko. Wir haben einen passenden Ort gesucht und diesen Friedhof gefunden. Hier am Eingang würde es niemanden stören. Wir haben ein Denkmal anfertigen lassen.“
Das Denkmal bestand aus einem Stein mit Kanafanis Portrait darauf. Dahinter stand ein offener Kasten aus Metall, darin die Worte „Klopft an die Tankwand“ – eine Referenz an Kanafanis Erzählung „Männer in der Sonne“.
Bald nach Errichtung des Denkmals empörten sich rechtsgerichtete israelische Gruppierungen darüber, so dass es schließlich entfernt und im Garten eines entfernten Verwandten Kanafanis aufgestellt wurde
Ishay Fridman von der Zeitung "Makor Rishon" hat als erster Journalist in israelischen Medien über das Denkmal berichtet und so die Debatte darüber ausgelöst. Er findet es richtig, dass das Denkmal vom Friedhof entfernt wurde. Er sagt: „Da es um einen Mann geht, der das Symbol einer terroristischen Organisation ist, glaube ich nicht, dass die israelische Öffentlichkeit ein Denkmal zu seinem Andenken gut findet. Für viele Israelis ist die PFLP eine Terrororganisation, die viel Leid in Israel verursacht hat. Sie hat eine ganze Reihe von Opfern gefordert.“
In Israel gilt die PFLP ebenso wie in den USA und der EU heute als terroristische Organisation. Im palästinensischen Parlament stellt sie einige Abgeordnete. Stückeschreiber Boaz Gaon findet, es sollte ein Denkmal für Kanafani geben – und gleichzeitig versteht er die andere Seite.

Kanafani bleibt umstritten

Und so werden auch in Zukunft Menschen in Israel und anderswo sagen, man dürfe diesen Schriftsteller nicht verehren und ihm keine Denkmäler oder Stipendien widmen. Sein Porträt wird weiterhin als Graffiti die Mauern palästinensischer Flüchtlingslager zieren. Seine Sätze über Engagement und Widerstand werden neben Passagen aus Briefen an eine syrische Geliebte weiter durch das Internet ziehen. Ghassan Kanafanis Erzählungen aber bleiben in jedem Fall eins: lesenswert.
(DW)
Mitwirkende: Eva Meckbach, Rosario Bona, Birgit Dölling, Robert Frank, Michael Mellinger
Regie: Stefanie Lazai
Ton: Christoph Richter
Redaktion: Dorothea Westphal
"Das Land der traurigen Orangen" von Ghassan Kanafani, übersetzt von Hartmut Fähndrich, Lenos Verlag, Basel 2015
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