Taliban-Regierung in Afghanistan

Das Emirat wird Realität

26:12 Minuten
Zwei Taliban in grüner und brauner Tarnuniform stehen bewaffnet an einem Checkpoint in Kabul. Im Hintergrund sitzt ein weiterer Taliban auf einem Stuhl und schaut zu einem Autofahrer.
Taliban-Kämpfer haben viele Checkpoints in Kabul aufgebaut. Einheitliche Uniformen haben sie nicht. © Emran Feroz
Von Emran Feroz · 06.04.2022
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Mädchen ab zwölf Jahren dürfen in Afghanistan weiterhin nicht in die Schule gehen, entschieden die Taliban. Männer sollen Vollbart tragen. Stück für Stück setzen sich die Hardliner durch. Die Freiheiten schwinden und die Armut im Land wächst.
Wer in diesen Tagen am Kabuler Flughafen landet, könnte meinen, dass sich hier die dramatischen Szenen aus dem vergangenen August nie ereignet hätten. Das Flughafengelände wirkt sauber und aufgeräumt. Reisende kommen und gehen, während Tagelöhner ihre Koffer in Wägen vor sich herschieben.

Ex-Präsident Karzai in Hausarest

„Willkommen am Hamid-Karzai-Flughafen“ stand hier früher. Doch dass mittlerweile vieles anders ist, macht ausgerechnet die Situation jenes Ex-Präsidenten deutlich, nach dem der Flughafen benannt wurde. Seit dem Abzug der NATO-Truppen im August 2021 und der Machtübernahme der Taliban befindet sich Hamid Karzai de facto unter Hausarrest. Während die meisten anderen Politiker, allen voran der letzte Präsident des Landes, Ashraf Ghani, während der Rückkehr der Taliban flüchteten und das Land verließen, entschied sich Karzai zu bleiben. Lediglich seine Familie, sprich: seine Ehefrau und seine Kinder, sollen mittlerweile im Ausland leben. Berichten zufolge soll die Villa Karzais, die neben dem afghanischen Außenministerium in Kabul liegt, mittlerweile auch von bewaffneten Taliban-Kämpfern kontrolliert werden. Außerdem ist der Ex-Staatschef gezwungen, täglich Hunderten von ihnen dreimal am Tag Essen zu servieren.

Sprachprobleme mit Taliban in Kabul

Die Taliban befinden sich allerdings nicht nur im Haus Karzais, sondern mittlerweile in ganz Kabul. Während am Flughafen ihre Spezialeinheiten patrouillieren, lassen sich in der Innenstadt zahlreiche Checkpoints mit ihren Fußsoldaten finden. Viele der Männer wirken jung, teils minderjährig.
Für viele Kabulis ist der neue Status quo weiterhin gewöhnungsbedürftig. Die Taliban tragen keine einheitlichen Uniformen. Meist tragen sie gar keine und sprechen die Menschen meist auf Paschto an, wie im Südosten des Landes üblich, während die Mehrheit in der Hauptstadt hauptsächlich Dari spricht.
Auf den ersten Blick wirkt allerdings nicht nur Kabul, sondern ganz Afghanistan in einer unheimlichen Art und Weise so friedlich wie schon lange nicht mehr. Die Taliban ließen Barrikaden und Mauern abbauen, die in den letzten Jahren für Stau und Verkehrschaos sorgten und die politischen Eliten vor Bombenanschlägen der Taliban schützten.

Kaum noch Anschläge

Reisen durch das Land erscheinen jetzt zumindest für afghanische Männer unproblematisch. Die Anzahl der Anschläge ist in den letzten Monaten stark zurückgegangen. Dies ist nicht verwunderlich, denn für die meisten Attentate waren die neuen Machthaber selbst verantwortlich.
Auf einer Gebirgsstraße im schneebedeckten Hindukusch steht ein altes Auto mit viel Gepäck auf dem Dach, das von Taliban kontrolliert wird.
Durch das Ende der Kämpfe in Afghanistan ist das Reisen - wie hier über den Salangpass im Hindukusch - zumindest für Männer wieder weitgehend möglich und sicher.© Emran Feroz
Jetzt ist es vor allem die IS-Terrormiliz, die noch Bomben explodieren lässt. In den ländlichen Gebieten Afghanistans, die in den letzten zwei Jahrzehnten hauptsächlich vom Krieg betroffen waren und Ziel von unzähligen US-Drohnenangriffen und nächtlichen Razzien wurden, atmen viele Menschen auf und genießen trotz Armut und Hunger Momente der Ruhe.

Angst vor Racheaktionen der Taliban

Doch wer genauer hinsieht, stellt fest: Es herrscht auch ein Klima der Angst. In den letzten Monaten haben die Taliban regelmäßig verdeutlicht, dass ihr Ziel die Errichtung einer theokratisch-autoritären Staatsform ist – und in dieser scheinen viele Menschen keinen Platz zu haben. Dies betrifft etwa weiterhin jene Afghanen, die in den letzten Jahren mit den internationalen Truppen in irgendeiner Art und Weise zusammengearbeitet haben. Viele von ihnen sind gezwungen, in Afghanistan zu verweilen, weil sie nicht ausreisen können.
Sie haben Angst vor den Racheaktionen der Taliban und halten sich deshalb bedeckt. Dies fällt nun besonders schwer, da die neuen Machthaber seit einigen Wochen in Wohnungen und Häuser eindringen, um diese zu durchsuchen. Auch Farhad, dessen Name aus Sicherheitsgründen geändert wurde, war betroffen:
„Sie kamen vor einigen Tagen in meine Wohnung und stellten alles auf den Kopf. Zum Glück hatte ich meine Dokumente bereits in der Apotheke meines Bruders versteckt. Sie beweisen meine Zusammenarbeit mit den Ausländern und gefährden weiterhin mein Leben, doch ich kann sie nicht einfach vernichten.“
Farhad hat jahrelang für die Bundeswehr als Telekommunikationstechniker gearbeitet. Da er allerdings für eine externe Firma tätig war, wollte ihm die Bundesregierung im vergangenen Jahr nicht helfen. Als das Chaos am Flughafen begann, war es bereits zu spät. Farhad hatte Angst vor den Taliban-Checkpoints und wollte ohne feste Evakuierungszusage seine Wohnung nicht mehr verlassen.
Heute sieht er keine Zukunft in Afghanistan: "Ich verstehe nicht, warum ich hier weiterhin ausharren muss. Zahlreiche Menschen, die nichts mit der NATO zutun hatten, wurden evakuiert und leben mittlerweile in den USA oder in Europa. Ich gönne es ihnen, aber warum hilft man uns nicht? Wir – vor allem meine Töchter – haben hier keine Zukunft."

"Ich habe viele von ihnen getötet"

Farhad und andere Ortskräfte sind nicht die einzigen, die um ihr Leben bangen. Nach der Machtübernahme der Taliban fiel der alte Sicherheitsapparat des Landes mit ca. 150.000 Soldaten in sich zusammen. Während viele Militärführer ins Ausland flüchteten und teils sogar Deals mit den anstürmenden Taliban gemacht hatten, mussten viele Fußsoldaten bleiben und waren ihrem Schicksal überlassen. Nicht wenige von ihnen kämpften bis zum letzten Moment und erfuhren erst Stunden nach dem Sturz Kabuls, dass der Präsident geflüchtet war.
Auf dem Rücken dieser Soldaten wurde in den letzten Jahren der Krieg ausgetragen. Nun sind die Männer gezwungen, sich bedeckt zu halten. Im August 2021 verkündeten die Taliban eine Generalamnestie, doch viele Ex-Soldaten glauben nicht daran, wie Ahmad, dessen Name ebenfalls geändert wurde:
„Ich weiß, was ich gemacht habe. Ich habe viele von ihnen getötet. Sie werden mir nicht verzeihen.“
Er kämpfte einst für eine Spezialeinheit der afghanischen Armee und war hauptsächlich im Süden des Landes stationiert. Ahmad ist davon überzeugt, dass dort die meisten Taliban weiterhin nach ihm fahnden würden. In den letzten Jahren ließ er viele Bomben auf die Extremisten abwerfen. Dabei starben auch viele Zivilisten, wie er selbst betont: „Ich bin nicht stolz auf meine damaligen Tagen, doch es herrschte Krieg. Wir waren Soldaten und bekamen unsere Befehle. Ich wünsche mir einen echten Frieden und eine echte Versöhnung, doch gegenwärtig sehe ich nicht viel davon.“

Taliban-Kommandeure mit Tötungslisten

Bereits Ende 2021 machte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch in einem Bericht deutlich, dass seit der Rückkehr der Taliban mehr als 100 Mitglieder der ehemaligen Sicherheitskräfte getötet wurden oder verschwunden sind. Human Rights Watch schrieb von blutigen Vergeltungsmaßnahmen und berichtete von systematischen Verbrechen. In einigen Fällen hätten lokale Taliban-Kommandeure etwa Listen mit Menschen zusammengestellt, die aufgegriffen oder getötet werden sollten, wie gemutmaßt wird.
In dem Bericht, der sich lediglich auf die Provinzen Helmand, Ghazni, Kandahar und Kunduz konzentrierte, kamen unter anderem Zeugen und Familienangehörige der Opfer zu Worten. Unter anderem war von einem „breiten Muster von Missbräuchen“ die Rede.
Ahmad ist davon überzeugt, dass sich die Taliban mit ihren repressiven Schritten ihre eigene Grube graben.
„Jemand wie ich hat in den letzten Jahren nur gelernt, wie man kämpft. So geht es vielen jungen Männern. Etwas anderes können wir nicht. Falls die Taliban unser Leben auf Dauer bedrohen, sind wir gezwungen, wieder zur Waffe zu greifen. Wir können genug ausrichten, um ihnen das Leben zu erschweren.“

Weiterhin keine Oberstufe für Mädchen

Seit der Rückkehr der Taliban hat sich der Alltag vor allem für Afghaninnen verändert. Mädchen wird der Gang in die Oberstufe in der Regel ab zwölf Jahren - von der siebten bis zur zwölfte Klasse - weiterhin verwehrt. Dies hätte sich eigentlich mit Frühlingsbeginn ändern sollen, denn die Taliban hatten für diesen Zeitpunkt eine Wiedereröffnung aller Klassen angekündigt. Daraus wurde allerdings nichts. Stattdessen wurden weinende Schülerinnen ein weiteres Mal Nachhause geschickt.
Die Taliban sprachen von „technischen Problemen“ – es würden Schuluniformen fehlen – und einer baldigen Öffnung. Doch die meisten Afghanen sahen darin nur eine Hinhaltetaktik der Extremisten. Die Distanz zwischen den rhetorisch begabten „Medien-Taliban“ in Kabul, die in den letzten Monaten auch von zahlreichen internationalen Medien hofiert wurden und der alten Führungsgarde im südlichen Kandahar, dem Machtzentrum der Bewegung, wurde deutlich.
Studentin Hadia aus Kabul kritisiert die neuen Machthaber für diese Entscheidung: „Ich denke, dass die Taliban einen großen, dummen Fehler machen. Sie hatten anfangs versprochen, die Schulen wiederzufinden. Nun haben sie dieses Versprechen gebrochen. Ich denke nicht, dass sie damit auf Dauer durchkommen werden.“

Parkbesuche getrennt nach Geschlechtern

Während Afghanistan weiterhin hungert und von internationalen Geldern abhängig ist, sind die Taliban, so scheint es, von ihrer misogynen Politik nahezu besessen. Kurz nach der Aufrechterhaltung des Schulverbots wurde etwa angeordnet, dass öffentliche Parks nur noch geschlechtergetrennt besucht werden dürfen. Vier Tage in der Woche stehen Männern zu, drei den Frauen. Familienausflüge sind demnach nicht mehr möglich. Einer weitere Anordnung zufolge dürfen Frauen ohne einen „mahram“, einer männlichen Begleitung aus dem familiären Umfeld, in kein Flugzeug steigen. Dies gilt anscheinend auch für Afghaninnen mit ausländischen Staatsbürgerschaften.
Wo soll das noch hinführen, fragt sich Studentin Hadia: „Seit die Taliban zurück sind, erleben afghanische Frauen zahlreiche Einschränkungen und Verbote. Ich studiere mittlerweile im fünften Jahr Medizin. Zuvor besuchte ich zwölf Jahre lang die Schule. Auch damals waren all unsere Lehrer Frauen. Ich verstehe nicht, was die Taliban wollen. Es heißt mittlerweile auch, dass bald die Universitäten für Mädchen geschlossen werden. Nun mache ich mir um meine Zukunft Sorgen und habe Angst, mein Studium nicht abschließen zu können.“
Mit ihren Sorgen steht die Studentin nicht allein da. Weite Teile der afghanischen Zivilgesellschaft im In- und Ausland kritisierten das Vorgehen der Taliban scharf und stellten die nichtvorhandene Logik der Extremisten in Frage.
Das inoffizielle Schulverbot besteht gegenwärtig ausschließlich für Schülerinnen der Oberstufe. Universitäten sind weiterhin geöffnet. Allerdings werden sie von den Sittenwächtern der Taliban regelmäßig kontrolliert. Für Frauen gilt eine strengere Verschleierung als zuvor. Der Unterricht findet mittlerweile geschlechtergetrennt und zu unterschiedlichen Uhrzeiten statt. Das männliche Lehrpersonal trägt mittlerweile wie gewünscht zunehmend Vollbart.

Taliban wollen Hilfsgelder kontrollieren

Die fortwährende Schließung der Mädchenschulen hat auch die internationale Gemeinschaft vergrault. Das Afghanistan der Taliban ist ebenso wie früher von ausländischen Geldern in Milliardenhöhe abhängig, doch diese fließen seit der Machtübernahme der Extremisten kaum noch. Die USA froren die afghanischen Staatsreserven in Höhe von rund neun Milliarden Dollar ein und beschlossen vor wenigen Wochen, die Hälfte davon an die Opfer der Anschläge des 11. Septembers zu verteilen. Für viele Afghanen war dies blanker Hohn und eine Kollektivstrafe.
Das Resultat: Bargeldknappheit, Arbeitslosigkeit, Armut und Hunger. Viele Beobachter gingen davon aus, dass sich dies mit dem Frühling ändern und sowohl die westliche Staatengemeinschaft als auch die Taliban einlenken würden. Vieles hing von der Mädchenschulfrage ab. Das jüngste Handeln der Taliban macht deutlich, dass sich das Regime abermals isolieren will oder im besten Fall eine Zusammenarbeit mit Akteuren wie China, Russland, Iran oder Pakistan vorzieht.
Zahlreichen NGOs, die in Afghanistan weiterhin präsent sind, fällt die Arbeit aufgrund der Intervention der Taliban immer schwerer. UN-Generalsekretär Antonio Guterres sprach bei einer Geberkonferenz für Afghanistan am 31. März 2022 davon, dass 95 Prozent der Afghaninnen und Afghanen nicht genug zu essen hätten: "Eine Million schwer unterernährte Kinder sind am Rande des Todes."
2,4 Milliarden US-Dollar wurden bei der Konferenz von 41 Ländern zugesagt, die direkt an die Hilfsorganisationen im Land fließen sollen. Aber die neuen Machthaber wollen den Geldfluss kontrollieren und zunehmend selbst darüber entscheiden, wer Hilfsmittel erhält. Hinzu kommt – und auch das fällt auf den Straßen Kabuls auf – dass viele der Kämpfer selbst hungern und seit Monaten keinen Lohn erhalten haben.

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