NATO-Abzug aus Afghanistan

Ein Volk in Angst vor den Taliban

22:17 Minuten
Buntgekleidete kleine Kinder sitzen mit einer Frau, die den Kopf mit einem Tuch bedeckt hat am Eingang eines Zeltes.
Frauen und Kinder geraten zwischen die Fronten, vor allem, seitdem die meisten NATO-Soldaten abgezogen sind. © Silke Diettrich, ARD-Studio Neu Delhi
Von Silke Diettrich · 27.07.2021
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Die USA und ihre Verbündeten ziehen sich aus Afghanistan zurück, die Taliban sind auf dem Vormarsch und könnten die Macht in Kabul schon bald übernehmen. Was also ist für Afghaninnen und Afghanen das Ergebnis von 20 Jahren "Krieg gegen den Terror"?
Deutscher Stützpunkt Masar-e Scharif, 29. Juni, Ortszeit 23.15 Uhr. Nur eine knappe Stunde zuvor hat die deutsche Nationalmannschaft bei der Europameisterschaft im Achtelfinale gegen England verloren. Die afghanischen Lotsen haben die Niederlage auf dem großen Flachbildschirm im Tower mitverfolgt. Und wie immer auf die Deutschen gehalten, jahrelang haben sie ja Seite an Seite mit ihnen zusammengearbeitet.

Die Nacht- und Nebelaktion der Deutschen

Und dann, kurz vor knapp, schauen sie auf den neuen Flugplan und realisieren: Die Maschine vom Typ A 400 M, die jetzt abhebt, wird endgültig der Flieger sein, der die letzten deutschen Soldaten aus Afghanistan rausbringen würde.
In einer Nacht-und-Nebel-Aktion verlassen die Deutschen ihren Stützpunkt im Norden von Afghanistan. Mit leeren Augen schaut Majid Saddad der letzten deutschen Maschine hinterher. Er ist der Chef des zivilen Flughafens von Masar-e Scharif.
Ein Mann im Anzug steht angelehnt an ein Geländer etwas erhöht. Im Hintergrund ein Fluzgzeug auf einer Landebahn.
Flughafenchef Majid Saddad sagt, seit dem Abzug der Bundeswehr könne in Masar-e Scharif keiner mehr in Ruhe schlafen.© Silke Diettrich, ARD-Studio Neu Delhi
Den Deutschen, sagt er leise, habe er und auch das Land Afghanistan viel zu verdanken: "Vor wenigen Sekunden haben wir gesehen, wie der letzte Flieger abgehoben hat. Das war’s. Nach 20 Jahren ist die Freundschaft vorbei. Gestern Abend haben sie mir hier noch versprochen: Eines Tages kommen wir als Touristen zurück, mit unseren Familien, nicht als Soldaten."
Touristische Ausflüge und ein familiäres Wiedersehen in Afghanistan? Dass dieses Versprechen je eingelöst wird, daran kann hier gerade niemand glauben. Mehr noch, es muss wie blanker Hohn für die Afghanen klingen.

So nah waren die Taliban noch nie

Die Taliban haben sich bis wenige Kilometer vor die Stadtgrenze von Masar-e Scharif herangekämpft. So nah waren sie noch nie. Der Norden von Afghanistan, für den die Deutschen jahrelang zuständig waren, versinke nun in Chaos, sagt Flughafenchef Saddad:
"Das ist das Ergebnis, weil die ausländischen Truppen abziehen. Das hat Auswirkungen auf die Sicherheitslage im Land, alle Soldaten sind im höchsten Alarmzustand. Aber das geht auch auf die Psyche aller Afghaninnen und Afghanen. Keiner kann gerade mehr in Ruhe schlafen."
Eine Reihe von Männern steht in einer sandigen Landschaft und hält ein Plakat in die Höhe.
Fühlen sich im Stich gelassen - Ortskräfte, die für die Bundeswehr im Dienst waren.© Silke Diettrich, ARD-Studio Neu Delhi
Seit dem 1. Mai, als der Abzug der NATO-Truppen offiziell begann, haben die Taliban in zahlreichen Offensiven so viele Bezirke im Land eingenommen, dass sie nun weit mehr im Land kontrollieren, als die afghanische Regierung.

Regierungswechsel in wenigen Monaten?

Düstere Prognosen von US-Geheimdiensten gehen davon aus, dass die afghanische Armee und damit auch die Regierung in wenigen Monaten zusammenbrechen könnte.
Flughafenchef Saddad macht sich große Sorgen, dass die Taliban seinen Flughafen angreifen könnten und es keine Chance gibt, ihn zu verteidigen: "Als die Deutschen noch hier waren, habe ich sie einfach angerufen. Sie haben gesagt: Kein Problem, wir sind hier. Jetzt sind sie weg. Wen soll ich nun um Hilfe bitten?"
Dort, wo die Bundeswehr jahrelang zuständig war, könnte sich das Schicksal für Afghanistan entscheiden: Denn wenn der Norden fällt, davon sind die meisten überzeugt, wird auch das gesamte Land in die Hände der Taliban fallen.

Die Entscheidung wird im Norden fallen

Die afghanische Regierung spricht nun schon seit Wochen davon, dass im Norden eine große Gegenoffensive geplant sei, die nun ohne die Beratungen der Bundeswehr ablaufen muss. Dort, wo die deutsche Truppe stationiert war, ist jetzt die Luftwaffe der afghanischen Armee untergebracht. Bislang war vor allem die Luftwaffe der USA für die afghanischen Truppen ein zentraler Faktor im Kampf gegen die Taliban.
Die afghanische Armee habe nun mehrere Hubschrauber von den USA erhalten und die Luftwaffe werde sich neu aufstellen, sagt Generalmajor Khanullah Shuja. Der Kommandeur ist erst wenige Tage vor dem Abzug der Bundeswehr in den Norden versetzt worden.
Vier Personen in Militärkleidung und Käppi stehen vor einem Van.
Generalmajor Khanullah Shuja (2.v.r.), erst seit Kurzem Kommandeur für die afghanische Armee im Norden, will die Taliban zurück in die Wüste schicken.© Silke Diettrich, ARD-Studio Neu-Delhi
Auf dem Hof der Kaserne am Stadtrand von Masar-e Scharif spricht er den jungen Rekruten Mut zu. Nach nur wenigen Wochen werden die jungen Männer schon im Kampf eingesetzt werden.

"Wir müssen sie zurückdrängen"

Der neue Kommandeur hat sich zum Ziel gesetzt, den Norden wieder zurückzuerobern: "Das Wichtigste ist nun, dass ich nicht zulasse, dass unsere Gegner auch die Städte einnehmen und es zudem nicht schaffen, wichtige Industriestandorte von uns zu besetzen. Wir müssen sie zurückdrängen, sie sollen wieder zurück in die Wüste und in die Berge."
Kampflos aufgeben komme nicht infrage, sagt auch der afghanische Verteidigungsminister. Mit allen Mitteln sollten sich die Afghanen nun zur Wehr setzen.
Er hat seine Landsleute dazu aufgerufen, zu den Waffen zu greifen. Und tatsächlich berichten afghanische Medien nun sogar von Frauen im Zentrum des Landes, die dem Aufruf gefolgt sein sollen.
Mehrere Männer posieren mit Waffen auf einem Abhang.
Sie sind Taxifahrer, Bäcker oder Dorfvorsteher. Nun greifen sie zu den Waffen, um sich gegen die Taliban zu wehren.© Silke Diettrich, ARD-Studio Neu Delhi
In Masar-e Scharif sind es Tausende Männer, die ihr Land gegen die Taliban verteidigen wollen. Kriegsfürsten und Parteivorsitzende haben Waffen an Zivilisten verteilt.

Das Kämpfen haben die Afghanen im Blut

Mit Panzerfäusten und Kalaschnikows stehen einfache Männer nun am Stadtrand. Ashmatullah ist der größte hier und scheint das Sagen zu haben in der kleinen Truppe. Eigentlich ist er Taxifahrer, aber kämpfen, das könnten sie hier alle, sagt er stolz, das hätten die Afghanen einfach im Blut:
"Seit 40 Jahren herrscht bei uns Krieg. Unsere Väter haben vor 20 Jahren zwar ihre Waffen niedergelegt und wir sind in die Schule gegangen. Aber unsere Väter sind Gotteskrieger, sie haben uns beigebracht, wie man kämpft. In schwierigen Zeiten haben wir Afghanen immer zu den Waffen gegriffen."
Die Männer zeigen in die Ferne und erklären, wo die Frontlinien verlaufen. Drei Kilometer entfernt würden schon die Taliban stehen, kurz davor die afghanischen Truppen und sie hier bildeten die letzte Front. In Sandalen, dreckigen Hemden und mit Waffen, die schon ihre Väter im Kampf gegen die Sowjets benutzt hatten. Und jetzt?

"Ihr hinterlasst einen kalten Krieg"

Obwohl die NATO-Truppen fast 20 Jahre in ihrem Land waren, würden sie zum Abzug nur Chaos hinterlassen, sagt Ashmatullah:
"Im Namen der NATO habt ihr euer Geld hier ausgegeben, eure Waffen ausprobiert und sie hier verkauft. Und jetzt geht ihr Hals über Kopf raus und hinterlasst einen kalten Krieg. Ihr seid gekommen, um Terror zu beenden, aber anstatt die Terroristen zu besiegen, gibt es hier jetzt viel mehr von ihnen."
Ein junger Mann mit dunklem Haar und Vollbart mit einem hellen Tuch um den Hals.
Ashmatullah zieht an die Front. Er ist eigentlich Taxifahrer, will nun seine Stadt aber gegen die Taliban verteidigen.© Silke Diettrich, ARD-Studio Neu Delhi
Nicht nur mehr Terroristen, es gibt auch immer mehr Flüchtlinge im Land. Hunderttausende Menschen sind in Afghanistan vertrieben worden, weil sie zwischen neue Fronten geraten sind. Sie landen an den Rändern der Städte, in die die Kämpfe noch nicht eingezogen sind.

Überall entstehen elendige Flüchtlingslager

Überall entstehen neue, elendige Flüchtlingslager, wie hier im Südwesten von Masar-e Scharif.
Immerhin kommt Wasser aus der Pumpe. Zehn kleine Mädchen stehen auf dem staubigen Boden, das Größte stellt sich auf die Zehen, um den Hebel mit aller Kraft nach unten zu drücken. Die Kleinen hängen sich unter das Rohr und spülen den Staub aus ihren Mündern.
Frauen und Kinder in bunter Kleidung und leerer Landschaft.
Hunderttausende Menschen müssen vor den Unruhen fliehen, darunter sind viele Kinder.© Silke Diettrich, ARD-Studio Neu Delhi.
Es ist 40 Grad im Schatten. Mitten in der steinigen Wüste. Hunderte Menschen leben hier im provisorischen Flüchtlingslager, so genau weiß das aber auch niemand, jeden Tag kommen neue dazu.
Gul Begum ist erst vor drei Tagen hier angekommen, mit ihrem Mann und ihren vier Kindern. "Wir sind vor den Kämpfen geflohen, es war schlimm. Aber jetzt, schauen Sie, leben wir in diesen dreckigen Zelten."

"Die Taliban kennen keine Gnade"

Zum ersten Mal in ihrem Leben habe sie Kämpfer der Taliban in ihrem Dorf gesehen, erzählt sie.
"Vor denen haben wir große Angst. Die Taliban tragen Turbane und Tücher vor ihren Gesichtern. Die kennen keine Gnade. Sie bringen einfach Leute um. Als ich klein war, haben sie auch meinen Bruder getötet."
Im Zelt nebenan hocken drei Jungs, um sich vor der prallen Sonne zu schützen. Eine große Reisetasche steht vorne an der Zeltöffnung. Trotz dicker Staubschicht strahlt der gelbe Kranich der Lufthansa noch hervor. "Travel" steht auf der Tasche geschrieben.
Drei Kinder sitzen in einer Kombination aus Steinbau und Zelt auf dem Boden.
Ihr Haus und ihr Dorf sind nun von den Kämpfen zerstört - Sie leben im Norden von Afghanistan, in dem die Bundeswehr jahrelang das Kommando geführt hat.© Silke Diettrich, ARD-Studio Neu Delhi
Diese Jungs hier aber werden niemals reisen können. So wie die meisten Menschen in den afghanischen Flüchtlingslagern. Hier habe kaum jemand eine Chance, rauszukommen, sagt Haji Faiz Mohammad. Er war Bürgermeister in seinem Ort in der Provinz Balch.
"Unser Leben ist in großer Gefahr", sagt er. "Als die Ausländer noch hier waren, war alles ruhig. Aber jetzt, wo sie raus sind, ist die Situation sehr schlimm geworden. Wenn wir könnten, würden wir nach Pakistan oder in den Iran fliehen, aber wir haben kein Geld. Wir haben überhaupt keine Chance."

"Ich wünsche mir einfach nur Frieden"

Gul Begum macht sich vor allem Sorgen um ihre Kinder, ihre beiden Mädchen hocken im Zelt auf dem steinigen Boden neben ihr. Und hoffen darauf, dass ihr Vater auch heute wieder etwas zu Essen besorgen kann.
"Ich wünsche mir einfach nur Frieden, damit meine Kinder wieder in die Schule gehen können", sagt sie.
Eine Frau und zwei Mädchen mit Kopftüchern und langen flileßenden Gewändern sitzen auf dem Boden einer Hütte.
Gul Begum hat Angst vor den Taliban und macht sich große Sorgen um ihre beiden Töchter.© Silke Diettrich, ARD-Studio Neu Delhi
Seit Monaten sitzen die Taliban mit Vertreterinnen und Vertretern der afghanischen Regierung an einem Verhandlungstisch, um über einen möglichen Frieden zu beraten. Das machen sie außerhalb des Landes in Katars Hauptstadt Doha. In Afghanistan selbst setzen die Taliban alles daran, militärisch die Macht im Land zu erzwingen.

Kabul ist derzeit eine Festung

Auch wenn in den Provinzhauptstädten und in der Hauptstadt Kabul noch keine großen Kämpfe ausgebrochen sind, sicher können sich die Menschen hier auch nicht fühlen.
Zum Opferfest im Juni schlagen gleich neben dem Präsidentenpalast in Kabul Raketen ein, mitten im Gebet von Präsident Aschraf Ghani und anderen hochrangigen Politikern. Der TV-Sender Tolo-News hat live mitgefilmt. Niemand läuft weg, einige Männer zucken nur kurz zusammen. Dann beten alle weiter, als sei nichts geschehen. Der sogenannte Islamische Staat bekennt sich zu dem Anschlag. Ein weiterer kriegerischer Mitspieler in Afghanistan.
An den Fensterscheiben im Auto rauschen in Kabul überall dicke, graue Betonwände vorbei. Die Hauptstadt hat sich in den letzten Jahren in eine Festung verwandelt: Stacheldraht, Checkpoints, bewaffnete Männer. Auch der größte Fernsehsender des Landes, Tolo-News, gleicht von außen einem Hochsicherheitsgefängnis.

Zwischen den Fronten: Wie Kulturschaffende in Afghanistan angegriffen werden. [AUDIO]
Im Machtkampf zwischen Taliban und der afghanischen Regierung sind Kulturschaffende zu Sündenböcken und Opfern geworden. Es sei zu einfach, die Schuld dafür nur den Taliban zu geben, sagt Amnesty-International-Sprecher Tillmann Schmalzried. Beide Seiten hätten schon unliebsame Schriftstellerinnen oder Künstler angegriffen. So habe der Präsident Aschraf Ghani die Chefredakteurin der größten Tageszeitung vertrieben. Auf der anderen Seite hätten zuletzt die Islamisten den Comedian Khasha Zwan getötet.

Die Illustration einer brennenden Flagge Afghanistans.
© imago images / YAY Images

"Das war ein feiger Abzug"

Statt nach einem Passierschein fragt einer der Wachmänner, ob wir Waffen dabei hätten. Die seien hier nicht erlaubt und müssten am Empfang abgegeben werden. Hunde beschnüffeln das Auto, Wachmänner öffnen den Kofferraum und schauen mit Spiegelstangen unter das Fahrzeug
Mehrere Schleusen und Röntgengeräte später begrüßt der Geschäftsführer herzlich auf Deutsch: "Was kann ich Ihnen anbieten?" Shafic Gawhari hat in Paderborn studiert und war dann jahrelang für die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit tätig.
Selten, sagt er, würde er was Negatives über die Deutschen sagen. Aber jetzt müsste es mal sein: "Das war ein feiger Abzug, in einer Nacht-und-Nebel-Aktion. Das war völlig unbegründet. Die Deutschen haben so viel Gutes hier gemacht. Ich bin persönlich sehr sauer und auch enttäuscht."
20 Jahre lang hat Shafic Gawhari sein Land mit aufgebaut, die Pressefreiheit genutzt, um den größten Nachrichtensender des Landes zu leiten. Er ist verantwortlich für 600 Menschen, die für die Mediengruppe Moby arbeiten. Elf seiner Kolleginnen und Kollegen sind bei Anschlägen und gezielten Attacken in den letzten Jahren ums Leben gekommen. Dennoch hat hier kaum jemand aufgegeben. Sie wollen weiter berichten, was in Afghanistan vor sich geht.
Ein Mann mit angegrautem kurzen Haar, runder Brille und weißem Hemd sitzt in einem Büro.
Shafic Gawhari ist der Geschäftsführer der Mediengruppe Moby. Er macht sich große Sorgen um seine Belegschaft.© Silke Diettrich, ARD-Studio Neu Delhi
Eine Errungenschaft der letzten 20 Jahre. Unter den Taliban waren Fernseher verboten und sämtliche TV-Sender sind über Nacht verschwunden. Nur streng religiöse Radioprogramme wurden gesendet oder Propagandanachrichten in Zeitungen verbreitet.

"Es wäre schade, wenn jetzt alles verloren ginge"

Jetzt, da die Presse endlich einen hohen Stellenwert für die afghanische Gesellschaft habe, würden die westlichen Länder einfach aus seinem Land abziehen, ohne irgendeine Bedingung zu stellen.
Das macht den TV-Geschäftsführer fassungslos: "Es ist schade, wenn man sich nach 20 Jahren wieder da sieht, wo man angefangen hat. Es wäre schade, wenn jetzt alles verloren ginge."
Shafic Gawhari hat viele harte Zeiten in Kabul miterlebt: den Krieg der Sowjetunion, den anschließenden Bürgerkrieg. Die Zeiten der Taliban Ende der 90er-Jahre aber sagt er, seien die schlimmsten gewesen:
"Kabul war eine tote Stadt. Überall herrschte Angst: Bei Jugendlichen, besonders bei den Frauen. Die ganze Stadt war voller Bettlerinnen und Bettler. Unter der Burka saßen Lehrerinnen, das konnte man an den Händen sehen, als sie um Geld gebeten haben. Die kamen aus guten und gebildeten Familien. Aber für sie gab es ja nichts mehr."

Heimlicher Unterricht für Mädchen

Das, was der Fernsehchef beschreibt, hat Fatima Yousufi am eigenen Leib zu spüren bekommen. Die Lehrerin hatte während des Taliban-Regimes heimlich über zwei Jahre lang Mädchen unterrichtet.
"Ich habe mir die Burka angezogen und bin zu ihrem Haus gegangen. Die Mädchen waren sehr dankbar und haben gerne gelernt. Die Taliban haben das dann herausgefunden, eines Tages kamen sie zu uns nach Hause", erzählt sie.
"Sie haben meinen Schwiegervater so sehr verprügelt. Er ist später im Krankenhaus gestorben. Diesen Moment werde ich nie mehr vergessen können."
Immer wieder streicht sich Fatima Yousufi mit dem Finger unter die Augen, um ihre Tränen wegzuwischen. Sie leitet heute eine Schule, an der 4000 Mädchen unterrichtet werden, von der Grundschule bis zum Abitur. Sie seien zu jung, um all die Gräueltaten der Taliban zu kennen, sagt Fatima Yousufi. Die 51-jährige macht sich große Sorgen.

"Warum kann Afghanistan nicht so sein wie andere Länder?"

Nicht um sich selbst, wie sie versichert, sondern um ihre Schülerinnen, die in den letzten 20 Jahren Freiheiten hatten, die unter den Taliban komplett beschnitten wurden.
"Wir Frauen durften nicht einmal alleine auf die Straße. Dein Ehemann musste dich begleiten, selbst wenn wir nur kurz in einen Laden gehen wollten, um Lebensmittel zu besorgen. Sie haben mich geschlagen, wenn mein Bruder mich begleitet hat. Es musste mein Ehemann sein."
Was immer auch in Zukunft geschieht, Fatima Yousufi will in Afghanistan bleiben. Bis zum letzten Blutstropfen, sagt sie, wolle sie ihr Land unterstützen und ihre Mädchen, auch wenn die Taliban wieder an die Macht kommen, nicht im Stich lassen:
"Aber ich frage mich: Warum kann Afghanistan nicht so sein wie andere Länder? Welche Sünde haben wir denn begangen, dass wir keinen Fortschritt haben dürfen? Warum dürfen wir nicht das machen, was andere Frauen auf der Welt auch tun dürfen?"
Die Taliban, die seit Monaten mit Vertreterinnen und Vertretern der afghanischen Regierung verhandeln, geben sich – was die Rechte der Frauen angeht offener als noch vor 25 Jahren.

Die Sorgen der Frauen – unbegründet?

Im Interview sagt Sprecher Suhail Shaheen, dass die Sorgen um die Frauen in Afghanistan völlig unbegründet seien.
"Wir verpflichten uns auch, ihnen ein sicheres Umfeld zu bieten, in dem sie mit Sicherheit arbeiten und Bildung erhalten können. Bekanntermaßen gibt es derzeit viele Fälle von Vergewaltigung, häuslicher Gewalt und Belästigung von Frauen. Wir würden Maßnahmen ergreifen, damit das unter einer neuen islamischen Regierung nicht passiert", erklärt er.
Wie genau sich die Taliban eine neue islamische Regierung vorstellen, darüber hüllen sie sich noch in Schweigen. Auf ihrer Webseite bezeichnen sie sich als "Islamisches Emirat von Afghanistan". Also noch genau so, wie damals, Ende der 90er-Jahre. Eine demokratische Verfassung, wie sie derzeit in Afghanistan gilt, lehnen die Taliban aber entschieden ab:
"Zuerst müssen wir über einen politischen Fahrplan sprechen und eine Lösung erreichen und natürlich wird es danach eine umfassende Waffenruhe geben und es wird keine Kämpfe geben, aber es ist sehr wichtig, dass wir zuerst Verhandlungen führen, um eine Verständigung und eine politische Lösung zu erreichen."

"Wir hoffen, dass uns die internationale Gemeinschaft unterstützt"

Es gibt keinen Zweifel, dass die Taliban wieder an die Macht kommen werden in Afghanistan. Die Frage ist nur, wie viel Eingeständnisse und Kompromisse sie dabei eingehen werden. Als die Taliban damals regierten, hatten sie keine Unterstützung von anderen Staaten und Afghanistan war völlig verarmt.
"Dieses Mal hoffen wir, dass die internationale Gemeinschaft und befreundete Länder uns in der zukünftigen Regierung finanziell unterstützen, was sehr wichtig ist. Ich denke, es sollte ein Marshallplan für den Wiederaufbau des Landes ausgearbeitet werden, denn das ist die Forderung des Volkes."
Ein junger Mann mit kurzen dunklen Haaren und in Hemd und T-Shirt mit dunkelumrandeter großer Brille.
Rohullah ist froh, wenn die letzten ausländischen Soldaten endlich sein Land verlassen. Er hat ihm nahe stehende Menschen bei US-Drohenangriffen verloren.© Silke Diettrich, ARD-Studio Neu Delhi
Und in der Tat gibt es auch genügend Menschen in Afghanistan, die es kaum abwarten können, dass die Taliban wieder an die Macht kommen. Rohulla Haqbal ist 23 Jahre alt und arbeitet für einen konservativen Fernsehsender in Kabul.

"Sie haben so viele unschuldige Leute auf dem Gewissen"

Zeit seines Lebens, sagt er, habe er unter einer ausländischen Besatzung zu leiden gehabt:
"Sie haben hier so viel Geld investiert, für was? Sie haben so viele unschuldige Leute auf dem Gewissen, haben im Namen des Krieges gegen den Terror hier Häuser zerbombt, von einfachen afghanischen Menschen. Wir haben damals doch niemanden in den USA angegriffen. Sie haben hier nur ihre Waffen getestet. Sie haben nichts für unser Land getan."
Der Tag, an dem der letzte ausländische Soldat sein Land verlassen habe und die Islamisten wieder an die Macht kämen, dieser Tag, werde ein absoluter Feiertag, sagt Rohulla Haqbal. Denn viele der zivilen Opfer, von denen er spricht, standen ihm sehr nahe:
"Meine Cousine ist mit ihren Kindern bei einer Drohnenattacke der USA ums Leben gekommen. Sechs Kinder, alle von den Amerikanern umgebracht. Nur mein Cousin hat schwer verletzt überlebt."

Frieden nicht um jeden Preis

Er will diese Demokratie nicht, er will, dass in seinem Land islamisches Recht gesprochen wird. Die Werte im Westen hätten mit denen in Afghanistan nichts zu tun. Rohulla Haqbal wünscht sich auch nichts sehnlicher als Frieden in seinem Land.
Die Taliban sagen, sie hätten kein Interesse daran, Provinzhauptstädte oder gar die Hauptstadt Kabul anzugreifen, zu groß sei das Blutvergießen in der Bevölkerung. Anfang Juli hatten sie angekündigt, einen schriftlichen Friedensplan vorzulegen. Auch wenn viele Menschen in Afghanistan schon jetzt einen Frieden wünschen, wollen die meisten ihn nicht um jeden Preis.
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