Afghanistan unter den Taliban

Islamisches Emirat reloaded

21:10 Minuten
Eine Frau und ein Kind stehen vor einem Bergpanorama am Eingang einer Höhle, die in die Tiefe der Erde führt. Neben ihr Wasserkanister.
Leben in der Höhle vor den Toren von Masar-e Scharif - alle haben Angst vor dem Winter, denn der Hunger wird dann noch größer. © Silke Diettrich, ARD-Studio Neu Delhi
Von Silke Diettrich · 01.12.2021
Audio herunterladen
Die Taliban sind wieder zurück an der Macht in Afghanistan. Die Hälfte der Menschen im Land weiß derzeit nicht, woher sie die nächste Mahlzeit bekommen soll. Und der Winter steht vor der Tür. Viele fliehen vor Hunger und aus Angst vor den Islamisten.
53 Meter in die Höhe klafft ein riesiges Loch in der Felswand. Die größte stehende Buddha-Skulptur der Welt hatte von hier aus fast 1500 Jahre lang ins Tal von Bamiyan geblickt.
Bis die Taliban sie im März 2001 vernichteten. Zuerst mit Panzern, dann mit Raketen. Am Ende zündeten sie Sprengsätze unterhalb des Buddhas und sprengten alles in die Luft.  

Die Taliban sprengten die Buddha-Skulpturen

Mehrere Explosionen zerrissen die zwei Riesenskulpturen und Dutzende weitere, kleine Statuen, völlig. Die Islamisten filmten alles , die Videos gingen um die Welt. Viele Menschen nahmen  wohl erst ab diesem Zeitpunkt Notiz von den Taliban, die das UNESCO-Weltkulturerbe zerstörten, um der Welt zu zeigen, dass der „Sieg des Islams“ endgültig sei.
Fast fünf Jahre waren die Taliban zu diesem Zeitpunkt schon an der Macht in Afghanistan. Nur einige Monate später marschierten die USA mit ihren Verbündeten in Afghanistan ein, um Osama bin Laden zu finden: Gründer und Anführer von Al-Kaida, der meistgesuchte Terrorist nach 9/11. In nur wenigen Wochen wurden die Taliban gestürzt.

"Afghanistan - Der Friedhof der Großmächte"

So einige  Kriegsepen handeln von dem Rausch des schnellen Sieges, den die US-Soldaten mit afghanischen Kriegsfürsten errungen hatten. Im Kinofilm "Operation: 12 Strong", der auf einer wahren Geschichte beruht, aber warnt einer der Kriegsfürsten schon im Jahr 2001 davor, sich nicht von dem Sieg blenden zu lassen.
„Hier gibt es keine richtigen Entscheidungen, das hier, das ist Afghanistan. Der Friedhof der Großmächte. Heute seid ihr Freunde, morgen seid ihr Feinde. Und Feiglinge werdet ihr sein, wenn ihr das Land verlasst.“
Fast 20 Jahre später, im Juli 2021, haben die USA mit ihren Nato-Verbündeten ihre Truppen aus Afghanistan abgezogen. Bedingungslos. Ein Friedensabkommen zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung hatten sie nicht erreicht. Wochenlang war der Abzug vorbereitet worden. Die letzten Soldatinnen und Soldaten in den internationalen Feldlagern haben dann nachts ihre Stellungen verlassen, ohne dass die afghanische Armee oder die Regierung mit eingeweiht worden wären.

"Was weiß ich schon über Geschichte?"

Und nur wenige Wochen später, am 15. August, haben die Taliban wieder die Macht übernommen. Im Tal von Bamiyan – vor den Felsspalten ohne Buddha-Statuen – zeigt sich der Machtwechsel in seiner groteskesten Form: Hier patrouillieren jetzt die Taliban.
Mit Kalaschnikows über ihren Schultern stehen sie vor dem abgezäunten Gelände und bewachen das Weltkulturerbe, das sie selbst zerstört hatten. Ihre Namen wollen sie nicht nennen und eigentlich auch nicht reden. Einer von ihnen, wenn auch ein wenig widerwillig, tut es dann doch.
„Ich weiß nicht, was hier mal passiert ist. Was weiß ich schon über Geschichte? Mein Job ist es, hier das Gelände zu bewachen.“

An einen Wiederaufbau glaubt niemand mehr

Dort, wo einst die große Buddha-Statue stand, steht jetzt ein riesiges Baugerüst. Die Wachleute der Taliban sollen Besucherinnen und Besucher davon abhalten, zu nah an die Felsspalte heranzugehen. Noch immer fallen Steine herab. Vor dem Maschendrahtzaun steht ein angerostetes Schild. Oben links der deutsche Bundesadler: „Der Erhalt des UNESCO-Weltkultur-Erbes wird unterstützt von der Bundesrepublik Deutschland“, steht darauf geschrieben.
An einen Wiederaufbau glaubt niemand mehr. Und was den Erhalt angeht, auch davon hätten sie keine Ahnung, sagt der Taliban-Sicherheitsmann, der eigentlich aus einer anderen Provinz kommt und hier doch nur seinen Job mache.
„Unsere Führer werden darüber entscheiden. Wer bin ich euch zu sagen, was aus dieser Stätte wird? Keine Ahnung, wie das mit der Restaurierung hier vorher gelaufen ist. Ich bin erst seit wenigen Tagen hier und die Taliban haben ja auch erst vor kurzem hier die Macht übernommen.“
Der Kopf einer jungen Frau mit Kopftuch im Profil vor einer steinigen Landschaft.
Die Familie hat Angst, wenn sie als Frau alleine auf die Straße geht, sagt die 21-jährige Kamilla aus Bamyian.© Adnan Sawar, ARD-Studio Neu-Delhi
Am Stadtrand, zwischen staubigen Hügeln, schaut Kamilla Jungs hinterher, die mit Volldampf auf ihren Rädern einen Abhang hinunterrasen. Kamilla hat Tränen in den Augen. Vielleicht vom Staub, den ihre männlichen Teamkollegen gerade aufwühlen. Aber wohl auch vor Wut und Trauer.
„Als die Taliban hier die Macht übernommen haben, haben Mädchen und Frauen aus unserem Rennrad-Team ihre Medaillen und Urkunden verbrannt oder vernichtet. Einige haben sogar ihre Räder zertrümmert oder sie versucht zu verkaufen. Ich selbst habe alles an einem sicheren Ort versteckt.“

Kamilla hat alle Hoffnungen verloren

Kamilla ist 21 Jahre alt. Bis Mitte August ist sie für das Team Bamiyan Rennen gefahren. Sie ist in der Republik Afghanistan aufgewachsen: Mit Musik, Tanz, Sport und Studium. Jetzt habe sie alle Hoffnungen verloren, sagt sie. All ihre Hobbys müsse sie aufgeben, die Universität sei geschlossen. Sie gehe kaum noch alleine aus dem Haus.
„Meine Familie wollte mich gar nicht zum Interview hierher lassen, sie haben Angst, dass die Taliban mir was antun, wenn ich als Frau alleine auf der Straße bin.
Ein kleines Mädchen aus meiner Nachbarschaft hat letztens ihr Rad genommen, um damit zum Markt zu fahren. Ein Talib hat sie dann angehalten, ihr ins Gesicht geschlagen und gesagt: 'Ich will dich nie mehr auf diesem Fahrrad hier sehen.'“
„Unislamisch“ sei das, sagen die Taliban. In vielen Teilen des Landes können seit der Machtübernahme der Islamisten, Mädchen ab der siebten Klasse nicht mehr zur Schule gehen. Sport und Schauspielerei sind nun für sie verboten.
Musik hört man auf den Straßen von Afghanistan nun kaum noch. Aber im Auto, bei geschlossenen Fenstern, dreht der Taxifahrer gerne ein bisschen auf. Am Autofenster rauschen violette Steinfelsen vorbei, Apfelbäume mit Früchten, grüne Täler.
Erst außerhalb von Bamiyan gerät die Fahrt ins Stocken: Tiefe Gräben in der Fahrbahn erinnern daran, dass hier noch bis vor wenigen Monaten Schlachten und Bombenangriffe zwischen den Taliban und der afghanischen Regierungsarmee stattgefunden haben. Stark umkämpft war auch der Norden des Landes.

Der schnelle Sieg der Taliban hat alle überrascht

Masar-e Scharif, die Stadt, von der aus der Siegeszug der USA zusammen mit den Kriegsfürsten über die Taliban begonnen hatte, ist knapp 20 Jahre später, am 14. August 2021, wieder von den Islamisten erobert worden. Einen Tag später dann die Hauptstadt Kabul. Und damit  war die Macht fast im gesamten Land für die Taliban besiegelt.
Der schnelle Sieg der Islamisten, nur wenige Wochen nach dem Abzug der internationalen Truppen, hat jeden überrascht, sogar die internationalen Geheimdienste. Aber als der Norden gefallen war, da war den meisten klar: Der Siegeszug der Taliban ist nicht mehr aufzuhalten.
Denn der Norden ist eigentlich als Bollwerk gegen die Taliban bekannt: mit einflussreichen Warlords und einer Bevölkerung, die mit den Paschtunen aus dem Süden, wo die Taliban gegründet wurden, nichts zu tun hat. Aber das Verhältnis der Bewohner aus dem Norden zu den Taliban habe sich in den vergangenen Jahren verändert, sagt Abdullah.
„Die Taliban, die die Provinz Balkh erobert haben, die sind von hier. Sie sind nicht aus anderen Provinzen gekommen. Es sind die Menschen hier, die die Regierung gestürzt haben. Zwei Jahrzehnte lang haben wir gekämpft.“

Frauen und Männer sollen getrennt lernen

Abdullah ist heute der oberste Dekan für die Universitäten in der Provinz Balkh. Einem Interview willigt er nur ein, weil er über Bildung in der nördlichen Provinz reden will.
Vor allem will er, genau wie die Taliban in der Regierung, klarmachen, dass auch Mädchen und Frauen in Afghanistan eine Ausbildung erhalten können. Es müssten nur erst die Bedingungen dafür geschaffen werden. Vor allem müsste eine „islamische Umgebung“ gewährleistet werden, also Frauen und Männer sollten getrennt voneinander lernen.
Zwei Männer mit paschtunischer Kappe - einer davon mit Bart, stehen vor einem Auto und unterhalten sich.
"Hättet ihr das in Deutschland gewollt?" - Abdullah (l.) hat sich den Taliban angeschlossen, um sein Land von den westlichen Besatzern zu befreien.© Silke Diettrich, ARD-Studio Neu-Delhi
„Die Gefahr, dass zwischen Männern und Frauen etwas passiert, kommt von beiden Seiten. Deswegen arbeiten wir daran, dass sie sich nicht begegnen. Denn wir respektieren Frauen sehr, schauen Sie, meine Mutter ist eine Frau, ich habe eine Schwester. Wir machen uns Sorgen um ihre Sicherheit. Wenn sie zur Schule oder zur Universität gehen, sollen sie dort und auf dem Weg dorthin sicher sein.“

Frauen vor Vergewaltigungen schützen

Als die Taliban vor mehr als 20 Jahren an der Macht waren, mussten alle Frauen die Burka tragen, durften ohne Begleitung nicht das Haus verlassen, konnten weder arbeiten, noch zur Schule oder zur Universität gehen.
„Unsere Führer haben mir erzählt, dass sie damals auch schon daran gearbeitet hätten, Frauen arbeiten zu lassen. Wir müssen sie doch vor Vergewaltigungen schützen, das ist ein großes Problem, auf der ganzen Welt. Der Krieg und die USA haben uns nicht ausreichend Zeit gelassen, um unsere Regierung in allen Details ausreichend aufzubauen.“

"Alle Taliban-Regeln beruhen auf dem Koran"

Die Taliban hatten damals fünf Jahre lang regiert. Zu der Zeit war Abdullah noch Grundschüler. Nachmittags ging er in eine Koranschule. In der Oberstufe hat er sich den Taliban angeschlossen. Heimliche Treffen, keine Anrufe, nur Whatsapp Nachrichten. Er habe, um nicht aufzufliegen, westliche Kleidung getragen und sich rasiert.
Heute trägt er eine traditionelle paschtunische Kappe, langes Hemd und weite Hose. Abdullah sieht sich als Freiheitskämpfer, auch wenn er nie in den Krieg gezogen ist. Die Taliban wollten, dass er sich fortbildet. Abdullah hat Medizin studiert, nebenbei zahlreiche Kurse belegt in Webdesign und Englisch. Am meisten aber habe er in der Koranschule gelernt, sagt er:
„Unsere religiösen Führer haben uns gelehrt, dass unsere Leitlinien in Afghanistan im Koran verankert sind. Ich habe selbst den Islam studiert. Ich weiß, das, was sie sagen und uns als Regeln vorgeben, all das beruht auf dem Koran. Das ist der Grund, warum sich so viele Leute den Taliban angeschlossen haben.“

Imame verbreiten die Ideologie der Taliban

Im Untergrund war Abdullah für die Medienarbeit der Taliban zuständig und hat andere Jugendliche angeworben. Vor allem in den nördlichen Provinzen seien in den letzten Jahren vermehrt Imame in den Koranschulen untergekommen, die die Ideologie der Taliban verbreitet hätten. Abdullah sagt, er habe sich ihnen angeschlossen, um sein Land von den westlichen Besatzern zu befreien.
„Hättet ihr das in Deutschland gewollt? Da kommt jemand in euer Land und sagt euch, was ihr tun sollt, was weder eurer Religion noch eurer Tradition entspricht? Würdet ihr es zulassen, dass wir die USA besetzen und sagen, dass alle zum Islam konvertieren müssten? Und wir würden sagen, wie sie zu regieren haben?", fragt er.
"Und so war es bei uns. Die Briten waren hier, die Sowjets und dann die USA. Hat alles nicht funktioniert. Zwei Jahrzehnte haben die Amerikaner uns das nun angetan, wir haben die ganze Zeit gegen sie gekämpft.“

Den Islamisten fehlt es an Geld

Der Kampf für die Taliban ist nun vorüber, sie haben gewonnen. Nun müssen sie zeigen, dass sie nicht nur gut Kriege führen können, sie müssen regieren. Aus den eigenen Reihen verfügen sie nicht über ausreichend Personal, um sämtliche Behörden am Laufen zu halten. Vor allem: Es fehlt ihnen an Geld.
Rund 75 Prozent des Haushaltes der afghanischen Regierung ist in den letzten Jahren vom Ausland finanziert worden. Jetzt haben die USA sämtliche Staatsreserven eingefroren, alle Staaten haben ihre Entwicklungszusammenarbeit vorerst auf Eis gelegt. Die Vereinten Nationen warnen vor einem totalen Zusammenbruch des Bankensystems. Und auch das Gesundheitssystem könnte kollabieren.
Im Bezirkskrankenhaus in Masar-e Scharif haben die Angestellten seit Monaten kein Geld mehr bekommen. Sie arbeiten trotzdem weiter. Das Gebäude und die Ausstattung wurden von Deutschland mitfinanziert. In den Betten liegen nun auch Taliban. Einer hängt gerade am Tropf, das Maschinengewehr gleich griffbereit neben ihm auf der Fensterbank.

"Die Menschen sind arm und brauchen Hilfe"

Der Provinzchef für das Gesundheitswesen hat sein Land verlassen. Nun ist Mawlawi Sheik Saddam an seine Stelle gerückt, auch er gehört zu den Taliban. Auf seinem Schreibtisch hat er die Flagge der Taliban gleich neben eine Weltkugel gestellt.
„Die Deutschen haben uns schon zuvor gerade im Bereich der Gesundheit viel geholfen. Wir benötigen auch weiterhin die deutsche Unterstützung. Mehr als 40 Jahre hat in unserem Land Krieg geherrscht. Die Menschen sind arm und brauchen Hilfe.“
Ein kleiner Junge mit verstrubeltem Haar hockt auf einer Baustelle im Schlamm neben einer Pfütze.
Flüchtlingslager am Stadtrand von Masar-e Scharif: Seit August hat sich die Zahl der Kinder in Afghanistan verdoppelt, die von akuter Mangelernährung betroffen sind.© Silke Diettrich, ARD-Studio Neu-Delhi
Humanitäre Nothilfe hat Deutschland bereits zugesagt. Bei einer Geberkonferenz im September haben viele Staaten Afghanistan kurzfristig rund eine Milliarde Euro versprochen.
Es  soll nicht an die Taliban ausgezahlt werden, sondern an Hilfsorganisationen und die Vereinten Nationen, die auch jetzt noch in Afghanistan aktiv sind. Deutschland hat das versprochene Geld schon ausgezahlt, viele andere Länder noch nicht. Doch gerade jetzt, wo der Winter vor der Tür steht, müsste die Hilfe  bei den Menschen sofort ankommen.

Wenn Menschen unter der Erde leben

Außerhalb der Stadt Masar-e Scharif ist es trocken und trist: Steine, Staub, grauer Sand, soweit das Auge reicht. Und plötzlich: kleine beigefarbene Hügel. Erst auf den zweiten Blick fällt auf, dass unter diesen Hügeln Behausungen sind. Ein elendes Flüchtlingslager.
Hier leben Menschen unter der Erde. Rund 100 Familien haben sich in dieser kargen Gegend eingegraben, um überleben zu können. Mehr könnten sie sich nicht leisten, sagt Sheikh Taher. Er habe einfach kein Geld, um Holz zu kaufen und für seine Familie ein richtiges Häuschen zu bauen.
„Wir haben Säcke mit Sand gefüllt, um daraus immerhin eine Art Wand zu bauen. Wenn hier mal Leute vorbeikommen, dann fragen sie uns, wie wir hier überhaupt überleben könnten. Einige fangen sogar an zu weinen."

Kein Geld - Keine Hilfe vom Arzt

Sheikh ist gerade einmal 30 Jahre alt und hat schon tiefe Falten im Gesicht. Auf den wenigen Quadratmetern unter der Erde lebt er mit seiner Frau Maryam, seiner Nichte und mit der kleinen Tochter Nergis. Maryam sitzt mit Schweiß auf der Stirn auf dem Boden und krümmt sich vor Schmerzen.
„Ich bin krank. Der Arzt sagt, ich habe Gelbsucht. Aber jetzt darf ich nicht mehr zu ihm, hat er gesagt, weil wir die Behandlung nicht zahlen können."
Tochter Nergis ist fast zwei Jahre alt, sieht aber viel jünger aus.
„Wir  haben pro Tag gerade mal ein kleines Brot für unsere Kleine, das schneiden wir in Scheiben und legen es ins Wasser, um ihr daraus eine Suppe zu machen. Das ist alles, was wir ihr gerade geben können."
Wie viele andere Kinder in Afghanistan auch, ist Nergis unterernährt. Seit August hat sich die Zahl der Kinder, die von akuter Mangelernährung betroffen sind, im Land verdoppelt. In dem unterirdischen Flüchtlingslager gibt es nicht einmal eine Wasserpumpe. Die Familien, die kaum etwas besitzen, müssen auch für Wasser zahlen.
„Es kommt von außerhalb in einem Container hierher. Die schütten das Wasser in dieses Loch, wo wir es sammeln. Aber wir können es uns kaum noch leisten, wir haben bei dem Wasserverkäufer schon anschreiben müssen.“
Monatelang hat es hier nicht mehr geregnet. In vielen Regionen Afghanistans haben die Menschen mit einer Dürre zu kämpfen. Noch mehr Angst aber hat Familie Taher vor dem Winter. Maryam hat Tränen in den Augen, als sie vom vergangenen Jahr erzählt.
„Es hat so viel geschneit. Ich habe versucht, mit bloßen Händen und einem Teller den Schnee von unserem Dach, also dieser Plastikplane hier, runter zu schaufeln. Dann ist es doch eingebrochen. Ich war schwanger und habe unser Kind bei dem Sturz verloren."
Ein Paar in afghanischer Tracht - sie mit einem roten Tuch über dem Kopf - sitzt nebeinander auf dem Boden.
"Wir bitten die Welt um Hilfe" - Maryam und Sheikh Taher leben unter der Erde am Stadtrand von Masar-e Scharif.© Silke Diettrich, ARD-Studio Neu-Delhi
Seit anderthalb Jahren leben die Tahers nun schon mitten in der Steinwüste. Sie mussten aus ihrem Dorf fliehen, weil sie zwischen die Fronten geraten waren: Die Taliban und die ehemalige Regierungsarmee kämpften auch in ihrem Dorf. Früher hatten sie ein kleines Haus. Als Bauer hatte Sheikh immerhin genug verdienen können, um sich und seine Familie zu ernähren:
„Wir bitten die Welt um Hilfe, damit wir noch eine Zukunft haben. Helft uns hier oder baut unser Dorf wieder auf. Wir sterben an Armut und Hunger. Selbst wenn wir wieder dorthin zurückkehren würden, dort steht kein Stein mehr auf dem anderen."

Die UN warnt vor massiver Flüchtlingskrise

Die Hälfte der Menschen in Afghanistan weiß derzeit nicht, woher sie die nächste Mahlzeit bekommen soll. Die Vereinten Nationen warnen vor einer massiven Flüchtlingskrise. Die einen könnten fliehen, weil sie den Hunger fürchten, andere, weil sie Angst haben vor den Taliban.
Darunter ehemalige Ortskräfte, von denen noch mehr im Land sind, als rausgeholt wurden. Männer, die in der afghanischen Armee gedient haben, Richterinnen, Menschenrechtsaktivisten und Menschen, die zu ethnischen Minderheiten gehören.
Freundinnen und Freunde von ihr, sagt Kamilla, die Rennradfahrerin aus Bamyian, hätten das Land bereits verlassen.
„Ich bin heute hierhergekommen, um meine Stimme zu erheben. Ich bin noch hier und sage euch: Unser Leben ist in Gefahr. Wir haben keine Zukunft in Afghanistan.“
Mehr zum Thema