Geflüchtete Frauen aus Afghanistan

Formulare ausfüllen und Netzwerke bilden

05:40 Minuten
Von Shikiba Babori  · 08.03.2022
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Nach der Machtübernahme der Taliban sind vor allem viele Frauen aus Afghanistan nach Deutschland geflohen, darunter Frauenrechtlerinnen und Aktivistinnen. Wie sieht ihr neuer Alltag aus?
Soraya Sobhrang sitzt vor ihrem Computer, rückt ihr Kopftuch zurecht und schaut mich freundlich an. Wir sind über Zoom miteinander verabredet. Sie erzählt mir von ihrer Flucht aus Afghanistan und von ihren Erinnerungen an die Augusttage 2021 rund um die Machtübernahme der Taliban in Kabul. „Die Straßen waren voller besorgter Menschen, vor allem im Bankenviertel", erinnert sie sich. "Alle hatten ihre Mobiltelefone in der Hand, die Atmosphäre fühlte sich an wie vor einem Tsunami.“
Einen Monat später konnte Sobhrang mit ihrer Familie zunächst in die westafghanische Stadt Herat und dann über das Nachbarland Iran weiter nach Deutschland fliehen. Während sie mit mir spricht, rutscht sie auf ihrem Stuhl ganz nach vorne, wirkt unruhig und nervös. Mit ihren Kolleginnen in Afghanistan ist sie weiter täglich in Kontakt. "Ich hoffe, dass sie bald auch raus können. Aber zum Glück sind die meisten schon außer Landes.“

Sorge um die Sicherheit

In Afghanistan hat Sobhrang zuletzt als Direktorin einer Partnerorganisation von "medica mondiale" gearbeitet, eine Organisation, die sich in Kriegs- und Krisengebieten gegen sexualisierte Gewalt an Frauen einsetzt. In Deutschland wird jetzt für Neuankömmlinge, die vor den religiösen Fundamentalisten in Sicherheit gebracht werden müssen, jede zur Verfügung stehende Unterkunft benötigt. Aus Sicherheitsgründen werden genaue Ortsangaben vermieden.
Sobhrang ist vorübergehend in einem Gästeappartement einer Universität in Nordrhein-Westfalen untergebracht. Die 60-jährige Gynäkologin zeigt mir mit ihrer Handykamera ihre neue Unterkunft. Die Einrichtung ist schlicht: Ein Regal, ein Bett, eine kleine Couch, ein Tisch. Raum für persönliche Dinge gibt es kaum. Es ist eine vorübergehende Bleibe.

Behördengänge bestimmen den Alltag

Der Alltag besteht vor allem aus Schreibtischarbeit. „Die Bürokratie nimmt die meiste Zeit in Anspruch", erzählt die Afghanin. "Anmeldung bei der Stadt, bei der Versicherung und so weiter. Das Verfahren ist immer identisch: Termine. Formulare ausfüllen. Warten. Und dann wieder Termine. So vergehen gerade die Tage.“
Immerhin: Ihre 17-jährige Tochter besucht schon seit Monaten die nahegelegene Schule. Im Gästehaus der Universität wird Sobhrang nicht lange bleiben können. Sie hofft, bald eine Wohnung zu finden, um sich dann wieder voll um ihre Projekte kümmern zu können. „Mein Plan ist, mit meinen Kolleginnen ein Netzwerk zu bilden, um gemeinsam zu überlegen, wie wir den Frauen in Afghanistan effektiv helfen können. Sie brauchen unsere Unterstützung, um die aktuelle Situation zu überstehen".

Die Kinder sollen schnell Deutsch lernen

Auch Shakiba Samadi hat es mit Hilfe von "medica mondiale" geschafft, Afghanistan zu verlassen. Mit ihrem Mann, der siebenjährigen Tochter und dem vierjährigen Sohn. Mitte Oktober konnten sie über Pakistan nach Deutschland fliegen. Die Familie Samadi ist zunächst in einer Übergangsunterkunft in Hessen untergebracht.
„Ich habe in Afghanistan dafür gesorgt, dass viele gewalttätige Ehemänner verhaftet wurden sind", sagt Samadi. "Viele von ihnen hatten Rache geschworen, sollten sie aus dem Gefängnis herauskommen." Seit die Taliban alle Gefangenen frei gelassen hätten, seien sie und ihre Familie in großer Gefahr gewesen.
Samadi hat in Kabul als Anwältin für Frauenrechte gearbeitet und muss sich nun eine neue Existenz aufbauen. Fast täglich spricht die 30-jährige Juristin mit ihren Brüdern in Afghanistan. Ihre größte Aufmerksamkeit gilt allerdings gerade den Kindern. „Ich lasse sie manchmal Zeichentrickfilme anschauen, damit sie schnell Deutsch lernen. Allein mit Englisch kommt man hier nicht zurecht." Auch sie selbst hat inzwischen einen Deutschkurs gefunden.

Der Blick nach vorn

Ortswechsel: Solingen. Auch Marzia Rezaie kommt aus Afghanistan und ist mit ihrer Mutter und drei jüngeren Geschwistern vor vier Monaten nach Deutschland gekommen. Als Aktivistin für Frauenrechte war sie in der Heimat extrem gefährdet. Auch mit ihr bin ich über Zoom in Kontakt. Die 26-jährige Betriebswirtin kümmert sich vor allem um ihre kranke Mutter.
Auf dem Tisch vor Rezaie liegt der Roman „Unerhörte Stimmen“ der türkischen Schriftstellerin Elif Shafak. Sie möchte damit Deutsch lernen. "Ich habe schon in Afghanistan ein Buch von ihr gelesen, ich mag ihren Schreibstil.“
Die Sonne scheint durch das Fenster des Zimmers in der dritten Etage der Unterkunft. Die Wände sind kahl und weiß. „Ein Andenken konnte ich nicht mitnehmen, um es an die Wand zu hängen." Bei der Abreise in Kabul habe alles sehr schnell gehen müssen.
Aber vielleicht sei es auch besser so, sagt sie mir, sonst hätte sie noch mehr Heimweh. Rezaie blickt nach vorne, will in ihrer neuen Heimat ankommen, so schnell wie möglich die Sprache lernen. Sie möchte ein Aufbaustudium im Fach Wirtschaft zu absolvieren.
Und sie hofft, eines Tages nach Afghanistan zurückkehren zu können. „Mein Traum ist es, eines Tages an der Universität in Kabul zu unterrichten.“

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