Elif Shafak über ihren Roman "Unerhörte Stimmen"

"Ich möchte über Tabus schreiben"

12:59 Minuten
Elif Shafak sitzt vor einem Bücherregal und schaut freundlich in die Kamera.
In ihrem Roman "Unerhörte Stimmen" thematisiert Elif Shafak das Leben und den Tod der Prostituierten Leila, die als Kind missbraucht wurde. © Olivier Hess
Elif Shafak im Gespräch mit Joachim Scholl · 04.06.2019
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Eine Prostituierte steht im Mittelpunkt des Romans "Unerhörte Stimmen" der türkischen Schriftstellerin Elif Shafak. Wie so oft wird sie dafür in der Türkei teilweise angefeindet und juristisch verfolgt.
Joachim Scholl: Die Schriftstellerin Elif Shafak ist 1971 in Straßburg zur Welt gekommen. Als Diplomatenkind hat sie früh die Welt gesehen – in Ankara hat sie studiert, ihren Doktor in Politologie gemacht mit einer Arbeit über die Rolle der Frau im Islam. Starke, entschiedene Weiblichkeit prägt auch ihre Romane und Erzählungen, die Elif Shafak zur meistgelesenen Autorin in der Türkei gemacht haben, in über 50 Sprachen ist ihr Werk weltweit übersetzt. Als Weltbürgerin lebt sie seit zehn Jahren in London, schreibt ihre Bücher auf Englisch und Türkisch. Jetzt gibt es einen neuen Roman, auf Deutsch heißt der "Unerhörte Stimmen".
Eine tote, brutal misshandelte Frau in einem Müllcontainer in Istanbul, offensichtlich wurde sie ermordet und dann einfach weggeworfen – so beginnt Ihr neuer Roman. Es ist der härteste, offensivste Anfang, den man sich denken kann. Wie kamen Sie zu diesem furchtbaren ersten Bild?
Elif Shafak: Mich hat interessiert, was jetzt in der wissenschaftlichen Forschung herausgekommen ist, dass nachdem das Herz aufgehört hat zu schlagen, das Hirn noch weiterarbeiten kann, in manchen Fällen tatsächlich bis zu zehn Minuten, manchmal auch nur ganz kurz. Aber mich hat sehr interessiert, was ein Mensch erinnert, woran sich jemand erinnert in diesen letzten Minuten, in denen das Hirn noch funktioniert, was aus seinem Leben an ihm vorbeizieht.
Hier haben wir diese Hauptfigur, sie ist eine Prostituierte, die brutal ermordet wurde und dann in einen Müllcontainer geworfen wurde. Ihr Herz hat aufgehört zu schlagen, aber ihr Hirn arbeitet noch weiter. Und man sieht dann sozusagen ihr Leben vorbeiziehen, Minute für Minute, in der sie sich erinnert.
Da ist einmal ihre Geschichte, dann ist es auch die Geschichte dieses Landes und auch eine Geschichte des Nahen Ostens. Man sieht all diese Dinge durch die Augen der Ausgestoßenen, auch der anderen Figuren im Buch. Mich hat immer diese unterprivilegierte Perspektive interessiert, die der Entrechteten, die wollte ich immer in meiner Arbeit darstellen, und ich wollte immer den Ungehörten eine Stimme verleihen.

Schreiben über das Schweigen

Scholl: "10 Minutes 38 Seconds in this Strange World", so heißt Ihr Roman im Original. Und es sind eben diese letzten 10 Minuten, in denen sich das Opfer vor ihrem Hirntod an das Leben erinnert. Leila ist ihr Name, sie wird 1947 in der türkischen Provinz geboren, wächst in strengen, patriarchalisch-religiösen Verhältnissen auf. Ein Onkel missbraucht sie als Kind jahrelang. Sie flüchtet dann mit 16 nach Istanbul und wird prompt in ein Bordell verkauft, zur Prostitution gezwungen, und als "Tequila Leila" wird sie da doch zu einer starken Persönlichkeit in ihren Kreisen.
Wie hat sich diese Frau, dieser Charakter in Ihrem Kopf entwickelt?
Shafak: Ich denke als Romanautorin, als fiktionale Schriftstellerin interessieren mich vor allem Geschichten von Menschen, aber ich finde auch das Schweigen, die Stille interessant, die Dinge, über die nicht gesprochen wird, über die man schweigt. Da gibt es so viele Dinge, die nicht angesprochen werden, politische, kulturelle, sexuelle Tabus, wo man sich fragt, warum ist das so, warum spricht man nicht darüber? Und das wollte ich näher betrachten.
In der Türkei sind viele dieser Dinge einfach Realität. Gewalt, sexuelle Belästigungen, Patriarchat und so weiter, all das gehört zum Alltag, und deswegen möchte ich auch darüber schreiben, diese Themen ansprechen, diese Tabus, worüber man eben sonst nicht spricht. Und wenn ein männlicher Autor das macht, dann heißt es einfach, oh, er ist ein interessanter Autor, er ist ein guter Autor, aber wenn eine weibliche Autorin das macht, dann sagt man, das ist eine Frau. Man sieht sie nicht als Autorin, sondern als Frau, und fragt deshalb auch nicht, wie man einen Mann fragen würde, ja, das ist ja ein großartiger Roman, sondern man fragt, ist Ihnen das passiert oder warum schreiben Sie darüber oder warum ist sie so unanständig, warum maßt sie sich an, über diese Dinge zu schreiben, warum nimmt sie solche Worte in den Mund.
Also man wird persönlich gefragt, an der eigenen Person werden die Inhalte festgemacht. Trotzdem glaube ich von ganzem Herzen, dass ich darüber schreiben muss und möchte – sowohl über das Schweigen als auch über die Geschichten.

"Die Türkei ist rückwärtsgewandt"

Scholl: In diesen letzten Minuten rekapituliert Leila ihr Leben, aber auch das anderer Frauen, denen sie begegnet, mit denen sie sich befreundet. Wir lesen einen Kranz von Lebensgeschichten, in die sich aber auch ganz stark die politische Geschichte der Türkei der letzten 50 Jahre mischt. Das ist eine Geschichte von Aufbruch, Fortschritt einerseits, andererseits aber auch von permanenten Rückschlägen, von Gewalt, Unterdrückung. Und zurzeit hat man ja den Eindruck, dass die antiliberalen, antidemokratischen Kräfte gesiegt haben. Haben Sie dieses Buch auch unter diesem Eindruck geschrieben?
Shafak: Es ist eindeutig, dass die Türkei schon lange Zeit rückwärtsgeht und rückwärtsgewandt ist. Wenn wir uns die heutige Situation ansehen, dann sieht man, dass der Nationalismus im Anstieg begriffen ist, die Religion und auch der Fundamentalismus. Gleichzeitig sieht man auch einen Anstieg des Autoritären. Das heißt, man muss sich darum Gedanken machen, besonders als Frau, denn je mehr nationale Strömungen und fundamentalistischer und toxischer Populismus in einem Land zu finden ist, umso mehr werden die Dinge verschwinden, die für Frauen wichtig sind, denn das Erste, was dann normalerweise in Gefahr ist unter solchen Regierungen sind Frauen- und Minderheitenrechte.
Und die Türkei, das muss man sich auch vor Augen führen, ist ein Land, in dem zurzeit die meisten Journalisten weltweit im Gefängnis sitzen. Sie haben da noch einige andere Länder überholt und sind jetzt auf Platz eins in dieser traurigen Statistik. Trotzdem ist es ein sehr schönes Land mit ganz tollen Menschen, und das darf man dabei nicht vergessen. Es gibt sehr viele Leute, die sehr fortschrittlich denken, die viele positive, gute Ideen haben und so weiter. Es ist häufig so, dass die Menschen eines Landes ihrer Regierung weitaus überlegen sind, und trotzdem können sie nichts machen und nichts daran verhindern.
Die Türkei ist ein sehr komplexes Land, und wenn man sich nur die Regierung ansieht, dann bietet sich einem ein sehr trauriges Bild. Aber wenn man sich die Bevölkerung anguckt, die Bewohner des Landes, dann hat man einen ganz anderen Eindruck, einen wesentlich positiveren.

Keine leichte Zeit für Schriftsteller in der Türkei

Scholl: Nationalisten in Ihrem Land haben Sie und Ihre Literatur immer schon verdammt. 2006 wurden Sie wegen Ihres Romans "Der Bastard von Istanbul" sogar gerichtlich angeklagt, aber freigesprochen. Mit diesem neuen Buch könnten Sie sich heutzutage vermutlich gar nicht mehr in der Türkei blicken lassen, oder?
Shafak: Heute ist es so, dass jeder Autor, jeder Journalist, jeder Dichter, einfach jede Person, die mit Worten zu tun hat, weiß, dass ein Interview, ein Gedicht oder ein Tweet oder auch nur ein Retweet für großen Ärger sorgen kann. Man kann für die kleinste Kleinigkeit in den sozialen Medien gelyncht werden, von der Regierung verdammt werden, in große Probleme kommen. Deswegen gibt es unter türkischen Literaten eine weit verbreitete Selbstzensur.
Mir ist aber sehr wichtig, dass man sich als Autor beim Schreiben frei fühlen kann, dass man seine Gedanken ausdrücken kann ohne eigene oder fremde Schranken. Als ich 2006 "Der Bastard von Istanbul" geschrieben habe, gab es tatsächlich ein Gerichtsverfahren dazu, was ein Jahr lang gedauert hat. In dieser Zeit haben Menschen, die ultranationalistischen Gruppierungen angehört hatten, auf mein Bild in der Straße gespuckt oder auch EU-Fahnen, weil sie mich mit der westlichen Welt in Verbindung gebracht haben. Und tatsächlich hat sich dieses Verfahren dann auch unter diesem besagten Artikel 301 entwickelt in einer völlig absurden Art und Weise, dass mein türkischer Anwalt tatsächlich meine armenischen fiktiven Figuren verteidigen musste.
Ich weiß also, dass es nicht einfach ist, in der Türkei politische Tabus zu hinterfragen, aber es ist auch so, was sexuelle Tabus betrifft, das ist ebenfalls sehr schwierig. In den letzten Tagen jetzt nach der Veröffentlichung meines Buches habe ich so viele negative Nachrichten bekommen in den sozialen Medien, so viele negative Kommentare, Hassbotschaften, Bots und so weiter, die mir vorgeworfen haben, ich sei obszön, von Leuten, die nicht wollten, dass man sich mit Kindesmissbrauch und Ähnlichem in der Türkei auseinandersetzt.
Jetzt untersucht tatsächlich ein Staatsanwalt mein Buch in Hinblick, ob es gegen die Anständigkeit verstößt. Das betrifft allerdings nicht nur mich. In der türkischen Literatur wird ständig nach unanständigem Material gesucht mittlerweile. Die Leute, die das machen, verstehen aber überhaupt nichts von Literatur. Sie lesen nicht, sie zerpflücken einfach die Bücher und suchen nach Inhalten, die ihnen nicht passen, nach Stellen. Es ist also keine leichte Zeit für Schriftsteller, Journalisten oder allgemein alle, die mit Worten zu tun haben.
Scholl: Sie haben aber, neben der Literatur auch immer als Politologin, als Journalistin geschrieben. In der Türkei hatten Sie eine regelmäßige Kolumne in der Zeitung "Habertürk", die als AKP-nah sogar gilt, also der Partei von Recep Erdogan. 2013 hat man sie dann entsprechend gefeuert. Gibt es denn für Sie überhaupt noch eine Chance, dass man Ihre Stimme in der Türkei hört? Was können Sie politisch für Ihr Land überhaupt noch tun – wollen Sie es noch?
Shafak: Ich liebe die Literatur, ich bin Geschichtenerzählerin, das ist es, was mich ausmacht. Ich beziehe mich auf das Leben und auf die Welt durch Geschichten. Aber wenn man in einer verwundeten Demokratie lebt wie der Türkei, wie Nigeria, Venezuela, Pakistan oder Brasilien, die Liste ist lang, dann hat man nicht den Luxus, unpolitisch zu sein. Dann kann man es sich nicht leisten, die Dinge nicht zu kommentieren, dann muss man als Schriftsteller die Wahrheit aussprechen. Man muss die Dinge ansprechen – nicht parteipolitisch oder so was, sondern in dem Sinne der grundlegenden demokratischen Themen wie Gerechtigkeit, Rechtmäßigkeit, Freiheit der Medien, demokratische Gesetze und so weiter. Zu diesen Themen dürfen Autoren niemals schweigen.

Die weibliche Seite von Istanbul

Scholl: Ihr Roman, Elif Shafak, ist auch wieder eine Hommage an Istanbul, die Stadt. An einer Stelle heißt es, Istanbul war eine Illusion, ein misslungener Zaubertrick, ein Traum, der nur in den Köpfen von Haschisch-Essern existierte. Sie haben Istanbul selbst öfter als weibliche Stadt beschrieben. Was ist dieses Weibliche für Sie an Istanbul?
Shafak: Ich hab immer geglaubt, dass Istanbul eine weibliche Stadt ist mit einer weiblichen Energie, und damit folge ich auch einer literarischen Tradition. Türkische Autoren und Schriftsteller und Dichter bis ganz weit in die Vergangenheit beschreiben Istanbul tatsächlich oft als starke Frau. Aber jetzt bricht es mir das Herz, dass man, wenn man durch die Stadt läuft, ab einer bestimmten Uhrzeit praktisch nur noch Männer sieht auf den Straßen, in den Teehäusern. Alle öffentlichen Orte sind damit männlich dominiert. Und ich als Feministin, als Schriftstellerin möchte, dass man die weiblichen Stimmen an diese Orte zurückbringt und die Stadt, die ja eine weibliche Seele hat, zurückfordert.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Elif Shafak: "Unerhörte Stimmen"
Kein & Aber Verlag, Zürich 2019
432 Seiten, 24 Euro

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