Kunstwissenschaftler Harald Kimpel

"Die documenta ist in einer Krise – und das ist gut so"

Das documenta-Kunstwerk "The Parthenon of Books", ein Nachbau des Parthenon-Tempels in Athen, der argentinischen Künstlerin Marta Minujin gehört zu den größten Projekten der documenta.
Das documenta-Kunstwerk "The Parthenon of Books", ein Nachbau des Parthenon-Tempels in Athen, der argentinischen Künstlerin Marta Minujin gehörte zu den größten Projekten der documenta. © dpa / picture-alliance
Wulf Herzogenrath und Harald Kimpel im Gespräch mit Sigrid Brinkmann |
Das Defizit von mehr als fünf Millionen Euro hat eine Debatte über die Zukunft der documenta entfacht. Kunstwissenschaftler Harald Kimpel hält Krisen wie diese für das "Überlebenselexir" der documenta. Wulf Herzogenrath meint: "Nicht die documenta ist in der Krise, sondern die Kritiker."
Die nächste documenta findet zwar erst 2022 statt, doch die Debatte um eine der wichtigsten Ausstellung für zeitgenössische Kunst reißt seit der documenta 14 nicht ab. Ein Defizit von 5,4 Mio Euro, das durch den 2017 erstmals bespielten zweiten documenta-Standort in Athen zu Buche schlägt, hat Fragen nach dem künstlerischen Wert der Kunstausstellung überlagert.

Prekär trotz Millionenbudgets?

Roger Bürgel, der 2007 eine documenta geleitet hat, sagte im Deutschlandfunk Kultur, dass die Arbeitssituation für alle an der documenta Beteiligten absolut prekär sei und man im Grunde gar nicht von einem Betrieb sprechen könne. Darüber hinaus betonte Bürgel, dass ein gewisser experimenteller Gestaltungsspielraum und das Eingehen von Risiken wichtig seien:
"Ich denke, dass der Charme der documenta im hohen Maße auch darin liegt, dass man Experimente und auch Risiken eingeht. Und da braucht es einfach eine Vertrauenssituation. Das ist im Unternehmerischen auch nicht anders. 90 Prozent geht irgendwie in die Hose und die zehn Prozent die gut gehen, reißen halt den Rest raus. Ich denke, dass diese Debatte, die sich da jetzt auf das Geld stürzt, eigentlich eine verschobene Debatte ist. In Wirklichkeit geht es um den Sinn der Ausstellung."

Die Welt von der Peripherie her erklären?

Roger Bürgel, den die Vorstellung schreckt, "Kunstfunktionäre" könnten für künftige documenta-Ausgaben engagiert werden, vertritt vehement das Recht, mit einem Konzept "auf die Fresse zu fallen". Da ein Großteil des entstandenen Millionen-Defizits in Athen entstand, wird aktuell auch darüber diskutiert, ob es die falsche Entscheidung gewesen sei, die documenta erstmals an zwei Standorten zu präsentieren. Der Kunstwissenschaftler Harald Kimpel hat sich intensiv mit der documenta beschäftigt und hält eine Weltausstellung, die ausschließlich in Kassel stattfindet, nach wie vor für ein überzeugendes Konzept:
"Die documenta ist in hohem Maße an Kassel gebunden und an die Besonderheit der topografischen Situation. Adam Szymczyk hat gesagt, es geht nicht mehr an, die Welt allein von Kassel aus zu erklären. Genau das aber hat die documenta sechs Jahrzehnte lang mit Erfolg betrieben. Und dieser Versuch von der Peripherie aus die Welt beziehungsweise die Kunstwelt zu in den Griff zu nehmen, das, denke ich, ist provokant genug, um der documenta weiterhin ihr Publikum und die internationale Aufmerksamkeit zu garantieren. Es braucht aus meiner Sicht nicht die Fortsetzung der Doppelstrategie, eher eine Rückbesinnung, dass Kassel und die documenta über dieses besondere Verhältnis von Peripherie und Welt aneinander gebunden sind."

Die documenta erfindet sich jedes Mal neu

Kimpel ist der Ansicht, dass es durchaus möglich sei, die documenta in Zukunft wieder auf ein kleineres Maße zurückzufahren und auf eine "überschaubare Zahl von Standorten" zu reduzieren. Wulf Herzogenrath, der viele Jahre die Bremer Kunsthalle geleitet hat und heute Direktor der Sektion Bildende Kunst in der Akademie der Künste Berlin ist, hält Szymczyks Entscheidung, die documenta an zwei Standorten zu zeigen, trotz der gegenwärtigen Kritik, nicht für prinzipiell falsch:
"Es ist jetzt klar, dass das beim nächsten Mal so sicher nicht passieren wird. Aber deshalb ist es nicht falsch gewesen, mal einen anderen Schritt zu machen. Zumal jede documenta immer ein neues Gebäude, einen neuen Bereich, sozusagen erobert hat, um sich wieder zu erweitern und sich abzusetzen von der vorhergehenden."

Die documenta in der Dauer-Krise?

Jede documenta reagiere auf die vorhergehenden, betont Herzogenrath. Bisher habe so gut wie jede documenta in der Kritik gestanden. Doch diese Krisen, so Herzogenrath, seien weniger eine Krise der Kunstaustellung selbst gewesen als eine Krise der Kritiker:
"Nicht die documenta ist jeweils in der Krise, sondern die Kritiker und die, die darüber reden, sehen diese Krise. Nur nach zehn, nach 15 oder gar nach 20 Jahren sagen sie: Das war doch noch sinnvoll. Das war doch toll. Da hat X doch ein wundervolles Konzept gehabt. Nur aktuell jeweils wurde es erstmal verrissen."
Die vermeintliche Sinn-Krise der documenta als Chance zu begreifen, dafür plädiert auch Kimpel:
"Die Krise der documenta ist ja eigentlich ihr Dauerzustand und gleichzeitig ihr Überlebenselexir. So dass wir, wenn wir sagen, die documenta ist in einer Krise, sagen müssen, und das ist gut so."
(mw)
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