Zwangsarbeit

Wie unser Lebensstil moderne Sklaverei mit verursacht

06:22 Minuten
Das Foto aus Freetown, der Hauptstadt von Sierra Leone zeigt eine Mauer mit Straßenmalerei und der Überschrift "modern slavery exist."
"Moderne Sklaverei existiert" - verkündet eine Wandmalerei in Freetown, der Hauptstadt von Sierra Leone. © imago images / Nature Picture Library / Steve O.Taylor
Von Leonie Sontheimer · 28.10.2019
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Sklaverei ist Vergangenheit, könnte man denken. Doch die Realität sieht anders aus. Millionen Menschen weltweit werden zur Arbeit gezwungen, ihre prekäre Lage wird schamlos ausgenutzt. Ihre Leistung steckt auch in unseren Konsumgütern.
Für mich arbeiten 41 Sklaven. Das hat die Seite slaveryfootprint.org berechnet, nachdem ich dort elf Fragen zu meinem Lebensstil beantwortet habe. Der Fußabdruck-Rechner soll Aufmerksamkeit für moderne Sklaverei schaffen. Das Thema wird oft unterschätzt.
Knapp 25 Millionen Menschen sind heutzutage von Zwangsarbeit betroffen, gibt die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) an. Dazu gehören Menschen, die zur Sexarbeit gezwungen werden, aber auch Menschen, die in Fabriken arbeiten, im Bergbau und in der Landwirtschaft. Ihre Arbeit steckt in vielen alltäglichen Produkten, weiß Justine Currell.
"Sie steckt in Tee, in Kaffee, in Baumwolle und in den Einzelteilen Ihres Smartphones. Konsumieren Sie diese vier Produkte, haben Sie zwischen 40 und 60 Sklaven, die Ihren Lebensstil ermöglichen."

Auch in Europa gibt es noch Zwangsarbeit

Justine Currell ist Leiterin der britischen NGO "Unseen" – Ungesehen. Die Mitarbeiter kümmern sich um "Überlebende moderner Sklaverei", wie sie selbst sagen. Und diese gibt es nicht nur in Asien oder Afrika. Auf das Not-Telefon ihrer Organisation in England gingen im letzten Jahr über 6000 Anrufe ein.
"Die Wahrheit ist, dass es überall geschieht. Wir sehen es sehr wohl in Großbritannien. Uns hat eine Frau angerufen, die etwas Beunruhigendes auf dem Parkplatz einer Fabrik beobachtet hat. Da lebe ein junger Mann in einem der Container. Als die Polizei ihn rausholte, war er sehr dankbar. Jemand hatte ihn monatelang gezwungen, in dem Container zu bleiben und in der Fabrik zu arbeiten. Es zeigt einfach, wie nah das alles ist."

Wir müssen die Herkunft unserer Waren kennen

Es sei die Aufgabe aller, gegen Zwangsarbeit vorzugehen – der Konsumenten, der Zivilgesellschaft, der Politik und der Industrie. Das ist die Botschaft von Justin Currell bei öffentlichen Auftritten wie bei der Konferenz des Consumer Goods Forum letzte Woche in Berlin.
"Wir müssen sicherstellen, dass wir bis ans Ende dieser Lieferketten gucken. Wir wissen, wo unsere Waren hergestellt wurden. Und wir müssen sichergehen, dass wir die Problematik von Zwangsarbeit und moderner Sklaverei nicht befeuern."
Porträt von Justine Currell, Leiterin der NGO "Unseen"
Justine Currell leitet die NGO "Unseen". Dort finden Opfer von Zwangsarbeit Hilfe. © Consumer Goods Forum
300 Vertreter aus dem Handel, der Produktion sowie Dienstleister und NGO-Mitglieder waren in Berlin zu einer Nachhaltigkeitskonferenz zusammengekommen. Sie wollen den Einzelhandel auf drei Ebenen optimieren: ökonomisch, ökologisch und sozial. Zwangsarbeit sei eine besonders harte Nuss, heißt es gleich bei der Begrüßungsrede.

Welche Rolle spielt Zwangsarbeit aus Sicht der Konferenzteilnehmer?
"Ich arbeite in Frankreich. Wissen Sie, wenn man sich unsere direkten Betriebe anschaut, findet man das nicht wirklich. Es beschäftigt uns hauptsächlich in unserer Arbeit mit Zulieferern, wenn wir sicherstellen, dass sie zentrale Maßnahmen ergreifen, um diese Probleme zu mindern und zu beseitigen."
"Das ist schwierig in einem Land wie Indien. Aber ich glaube, wir kriegen das gerade hin. Wir machen Produkte aus nicht-natürlichen Textilfasern und beliefern Partner auf der ganzen Welt wie Ikea. Sie als Unternehmen wollen nicht, dass wir irgendeine Form von Zwangsarbeit, Kinderarbeit oder dergleichen haben."
"Wir arbeiten für einen Supermarkt aus Aserbaidschan. Ehrlich gesagt wissen wir nicht, ob das geschieht oder nicht. Aber nach der Diskussion heute werden wir uns das anschauen."

Komplexe Lieferketten erschweren die Kontrolle

Tobias Streich arbeitet für Transparency One und hilft anderen Unternehmen dabei, ihre Lieferketten zu durchleuchten.
"Wenn man Nachhaltigkeit sicherstellen möchte, muss man erstmal wissen, wer Teil meiner Lieferketten ist. Und diese Lieferketten sind häufig relativ komplex mit sechs, sieben, acht, neun, zehn Stufen."

Doch wie genau findet Transparency One heraus, ob einer der Zulieferer Menschen zur Arbeit zwingt?
Tobias Streich: "Es gibt Kooperationspartner, die vor Ort durch die Fabrik gehen und einfach Interviews führen, unangekündigt. Und es gibt Technologie-Partner, die dann über Smartphones oder traditionelle Telefone versuchen, mit den Mitarbeitern anonym in Kontakt zu kommen und Daten zu erfassen."

Auf dem Papier steht das Ziel: null Zwangsarbeit

Transparenz ist zentral. Darin scheinen sich alle Teilnehmer der Konferenz einig zu sein. Doch Didier Bergeret weiß, dass Unternehmen auch Angst haben, Probleme in ihren Lieferketten offenzulegen.
"Wenn ich mehr Transparenz gebe – zum Beispiel: Ja, ich hab hier vielleicht Fälle von Zwangsarbeit –, dann krieg ich auch diese ganze Kritik, von der Regierung, von der Zivilgesellschaft."
Der Franzose leitet die Abteilung Soziale Nachhaltigkeit im Consumer Goods Forum, das die Nachhaltigkeitskonferenz veranstaltet. Zu den Mitgliedern des Forums gehören die ganz großen Konzerne wie Nestlé, Unilever und Metro. Sie alle haben 2016 beschlossen, gemeinsam gegen Zwangsarbeit vorzugehen. Ihr Ziel: "Zero, null Mitarbeiter, niemand in Zwangsarbeit."

Deutschland setzt auf Freiwilligkeit

Doch wie kann das gelingen? Nur in Kollaboration mit anderen Industrien und der Politik, sagt Bergeret. Und tatsächlich tut sich auch etwas in der Politik.
Großbritannien hat 2015 ein Modern Slavery Act verabschiedet. Er schreibt vor, dass große Unternehmen einen jährlichen Bericht über ihre Bemühungen gegen moderne Sklaverei veröffentlichen müssen. Frankreich hat 2016 per Gesetz eine Sorgfaltspflicht eingeführt. Große französische Unternehmen sind seitdem haftbar für Menschenrechtsverstöße in ihren Lieferketten. In Deutschland wird bisher darauf gesetzt, dass die Unternehmen ihre Produktionsketten freiwillig verbessern. Bis 2020 will die Bundesregierung evaluieren, wie gut das funktioniert, und gegebenenfalls gesetzlich nachrüsten.
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